Nostalgie – „Ich will, dass ihr handelt, als wenn euer Haus brennt, denn das tut es“

20. April 2024 | Esther & Andreas Reinecke-Lison, Gesellschaft, Nostalgie, Politik | 0 Kommentare

Jugend will Zukunft, keine Versprechen darauf

Eine gesundheitsförderliche Umwelt ist ein Recht, das Kindern und Jugendlichen zusteht. Der Klimastreik von Greta Thunberg inspiriert mittlerweile weltweit Schüler*innen dazu, mit Demonstrationen an die Mächtigen zu appellieren, die Pariser Klimaziel-Beschlüsse umzusetzen. Weniger bekannt ist, dass Jugendliche auch in internationale Umweltgremien eingebunden sind. Hier wie dort reklamieren die jungen Menschen eine Zukunft für sich auf einem lebenswerten Planeten. Doch hier wie dort ist die Unzufriedenheit über schleppende Fortschritte groß; keiner will mehr vertröstet werden.
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Esther und Andreas Reinecke-Lison


Ökologische Kinderrechte

„Ich bin ein Kind und ich habe das Recht, reine Luft zu atmen, so rein wie das Blau des Himmels.“
Kinder sind anders als Erwachsene – auch in gesundheitlicher Hinsicht. Schon der Fötus reagiert hochempfindlich auf Umweltbelastungen. Nerven-, Immun- und Atemwegssysteme sind bei Geburt nicht voll entwickelt, so dass Umweltbelastungen zu Risiken der normalen Entwicklung führen und den Körper dauerhaft schädigen können. Durch u. a. Luftverschmutzung, Pestizide (in Wasser und Nahrung), Chemikalien (persistente organische Schadstoffe/POP), und Schwermetalle leiden Kinder u. a. an Asthma (670 Mio. Kinder leiden unter akuten Atemwegsinfektionen), Allergien und Lernschwächen. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben jedes Jahr mindestens 3 Mio. Kinder an umweltbedingten Krankheiten. Industrienationen sind die größten Verursacher des Klimawandels, die Folgen bekommen vor allem Entwicklungsländer zu spüren.

Kinder sind dafür am wenigsten verantwortlich zu machen. Dabei haben Kinder ein Recht auf eine gesunde Umwelt und positive Zukunftsperspektiven. Dafür wird der Begriff „Ökologische Kinderrechte“ verwendet und definiert als das Recht jedes Kindes dieser Welt, in einer intakten Umwelt aufzuwachsen, ein gesundes Leben zu führen und positive Zukunftsperspektiven zu entwickeln.

Institutionelle Prozesse und das Ringen um Errungenschaften

„Ich bin ein Kind und ich habe das Recht, Rechte zu haben, weil mein Land die Kinderrechtskonvention unterschrieben hat zusammen mit 195 anderen Ländern.“
Die Erkenntnis der Aufklärung, dass Kindheit ein schützenswerter Lebensabschnitt ist, führte nach dem 2. Weltkrieg zur Gründung des UN-Kinderhilfswerks UNICEF 1946, der UN-Erklärung der Rechte des Kindes 1959, dem Internationalen Jahr des Kindes 1979 und schließlich der UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989. Keiner Konvention sind mehr Staaten beigetreten als dieser Konvention, nämlich alle Mitgliedsstaaten – außer den USA.

In der UN-Kinderrechtskonvention werden ökologische Kinderrechte nicht explizit erwähnt, sind aber abzuleiten aus den Artikeln 6 (Recht auf Leben), 24 (höchstmögliches Maß an Gesundheit) und 27 (angemessene Lebensbedingungen). Der Deutsche Bundestag hat der Kinderrechtskonvention 1992 zugestimmt. Für die Umsetzung wurde ein Nationaler Aktionsplan aufgestellt. Die Einhaltung der Konvention überwacht der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes. Eine National Coalition Deutschland erstellt Berichte, in denen sie die nationale Umsetzung kritisch begleitet.
Jeder 20. November ist „Internationaler Tag der Kinderrechte“. Schulkinder in Österreich wiesen 2015 auf ihre Rechte hin, indem sie im Wiener Parlament einen Leuchtturm aus Kartons bauten. Am Jahrestag 2018 besuchten 700 Jugendliche EU-Parlamentarier in Brüssel. Dabei wurde eine EU-Umfrage unter Jugendlichen (Europe Kids Want) veröffentlicht. Ergebnis: Zu den größten Ängsten unter Jugendlichen zählt der Klimawandel.

Auf EU-Ebene hat sich jedoch wenig getan, um ökologische Kinderrechte zu etablieren. Der Vertrag über die Europäische Union von 2009 enthält die EU-Charta der Grundrechte, deren Artikel 24 die UN-Kinderrechtskonvention anerkennt und zu Schutz und Förderung der Kinderrechte in allen EU-Maßnahmen verpflichtet. Doch seitdem wurden nur Leitlinien und Pläne formuliert, in denen Umwelt und Gesundheit eher Nebenaspekte sind, u. a. „Leitlinien zur Förderung und Wahrung der Rechte des Kindes“ 2017, „EU-Agenda für die Rechte des Kindes“ 2011.

Stattdessen hat sich auf der europäischen Ebene der WHO seit der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 ein komplexer institutioneller Rahmen entwickelt (Europäischer Umwelt- und Gesundheitsprozess/EEHP), mit Konferenzen der Minister für Umwelt und Gesundheit an der Spitze, wissenschaftlich begleitet vom Europäischen Zentrum für Umwelt und Gesundheit (ECEH) mit Sitz in Bonn. Doch auch hier werden lediglich Empfehlungen ausformuliert, die in nationale Bestimmungen umgesetzt werden sollen, u.a. die „Europäische Charta Umwelt und Gesundheit“ von 1989. Die 4. Ministerkonferenz Budapest 2004 legte den Schwerpunkt auf den Schutz von Kindern. Mit dem „Aktionsplan zur Verbesserung von Umwelt und Gesundheit der Kinder in Europa (CEHAPE)“ bekannten sich die Mitgliedstaaten u. a. zur Vermeidung von Atemwegserkrankung bei Kindern. Die Erklärung von Parma der 5. Ministerkonferenz 2010 konkretisierte die CEHAPE-Ziele in zeitgebundene Ziele, z. B. bis 2020 jedem Kind Zugang zu gesunden Umgebungen und Lebensumfeldern zu verschaffen.

Seit Parma 2010 sind Jugendliche mit der „European Environment and Health Youth Coalition (EEHYC) in den WHO-Prozess eingebunden, nehmen an Gremien und Konferenzen teil. In ihrer „Parma Youth Conference Declaration“ von 2010 drückten sie ihren Willen aus, die Sicht der Kinder und Jugendlichen zur Zukunft zu vermitteln und Politiker an ihren Taten zu messen. Gleichwohl erklärten sie auch: „Wir stellen mit zunehmender Frustration die Unfähigkeit der Staaten fest, eine echte Lösung für den Klimawandel zu finden, und erwarten von ihnen, verantwortlich zu handeln.“

Empörung von unten

„Warum sollte ich für eine Zukunft studieren, die bald nicht mehr möglich ist?“ (Greta Thunberg)
Diese Frustration hat auch heute nicht nachgelassen. Aber nun formiert sich eine außerinstitutionelle Bewegung von unten. Sich unterstützend und bestärkend durch das Internet und soziale Medien, ziehen Kinder und Jugendliche die richtigen Schlüsse aus der bisherigen Umwelt- und Klimapolitik, erlangen Aufmerksamkeit und sogar Zugang zu den Mächtigen, um an äußerst wichtigen Entscheidungen partizipieren zu können: Entscheidungen über ihre Zukunft, über die Schaffung einer lebenswerten Umwelt für sich und alle, die unter dem Klimawandel leiden müssen.

Vorbild ist die 16-jährige Schülerin Greta Thunberg, die seit August 2018 jeden Freitag vor dem Parlament in Stockholm einen „Skolstrejk för klimatet“ (Schulstreik fürs Klima) abhält und dies fortsetzen will, bis Schweden das Übereinkommen von Paris einhält. Sie wurde zur UN-Klimakonferenz Katowice Dezember 2018 und zum Weltwirtschaftsforum Davos Januar 2019 eingeladen und beeindruckte mit entschlossenem Auftreten und prägnanten Aussagen, u. a.:
„Ich werde die Menschen auf der ganzen Welt bitten, zu erkennen, dass unsere politischen Führer versagt haben.“
„Warum sollte ich für eine Zukunft studieren, die bald nicht mehr möglich ist, wenn niemand etwas unternimmt, um diese Zukunft zu retten?“
„Es hat den Anschein, dass Geld und Wachstum unsere einzige Sinnerfüllung sind.“
„Da sich unsere Führungskräfte wie Kinder verhalten, müssen wir die Verantwortung übernehmen, die sie schon längst hätten übernehmen sollen.“
„Ich will, dass ihr handelt, als wenn euer Haus brennt, denn das tut es.“

Inspiriert davon finden seit Herbst 2018 weltweit Schüleraktionen für das Klima statt. In Deutschland hat sich die überparteiliche Bewegung „Fridays for Future“ gebildet. In Bonn am 18.01.2019 und Esens/Ostfriesland am 08.02.2019 wurde für Klimaschutz und Kohleausstieg demonstriert, anstatt zur Schule zu gehen, denn: „Der Klimawandel wartet nicht auf unseren Schulabschluss!“ Klimapolitik ist für die Streikenden soziale Politik, weil sie nicht nur ihre Zukunft, sondern auch die Zukunft ihrer Kinder und Enkel betrifft und all derer, die unter dem Klimawandel leiden müssen.

Aussicht: Zukunft

„Ich bin ein Kind und ich habe das Recht ernst genommen zu werden. Wann wird es soweit sein, dass jedes Kind der Welt in seinen Rechten ernst genommen wird? Morgen? Übermorgen? Erst in 20 Jahren?“
Schulen sollten das akute Interesse an der Zukunft aufgreifen und den Klimawandel unter natur- und sozialwissenschaftlichen Aspekten im Unterricht behandeln: als Bildung für eine nachhaltige Entwicklung der Menschheit und des Planeten. Schüler*innen werden beobachten, ob die Politik nicht weiter den Lobbyinteressen nachgibt. Sie haben angesichts des aus ihrer Sicht enttäuschenden Kohlekommission-Vorschlags schon im Sinn, weitere 991 Freitage bis zum angekündigten Kohleausstieg 2038 zu streiken.

Und die nächste Generation? Die übt sich schon jetzt in Demokratie und Einsatz für die Gesellschaft. Die Gottfried-Kinkel-Grundschule ist eine Kinderrechteschule in Bonn. Schüler*innen verfügen über Rechte. Sie tagen im Kinderparlament, wo sie nach demokratischen Regeln über die Schule, ihre Gestaltung und das Schulleben mitbestimmen. Solch eine demokratische Bildung macht Kinder bereit, als Erwachsene die Herausforderungen unserer Gesellschaft noch besser anzugehen.

Literatur: Serres/Fronty: Ich bin ein Kind und ich habe Rechte, 2009;

Internet: Plan International: Klimawandel bedroht Kinderrechte / terre des hommes. Ökologische Kinderrechte / Deutsches Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention/ UNICEF: Kurze Geschichte der Kinderrechte / WHO Europa: Ministerkonferenzen Budapest 2004, Parma 2010 /European Environment and Health Youth Coalition (EEHYC) / Fridays for Future

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