Beim Foodsharing live dabei
Wer spät abends um neun oder zehn Uhr im Supermarkt einkauft, steht vor einer großen Auswahl an Lebensmitteln. Obwohl es unwahrscheinlich scheint, dass vor allem Verderbliches wie Gemüse und Brot in diesen Mengen um diese Zeit noch über den Tresen geht. Den Handel ertappt man oft dabei, wie er die Verantwortung an den Verbraucher abgibt: Das würde man erwarten. Einen Ausweg aus diesem Systemfehler habe ich mir mal genauer angeschaut.
Es ist Montagmittag 12 Uhr und ich bin im Bonner Stadtteil Endenich mit Caro verabredet. Sie ist seit vielen Jahren bei Foodsharing aktiv und mittlerweile auch Botschafterin für die Bonner Region. Eine Retterin nehmen wir noch direkt mit. Eine Andere treffen wir direkt am Supermarkt. „Wir bewahren bei diesem Betrieb beinahe täglich frische, aber beschädigte oder abgelaufene, aber noch gute Lebensmittel vor der Mülltonne“, werde ich begrüßt.
Laut Ernährungsministerium werfen wir in Deutschland pro Jahr knapp 11 Millionen Tonnen Essen weg, das für den Verzehr noch geeignet wäre. „Ein Drittel davon sind frisches Obst und Gemüse. Darum machen wir uns heute auf den Weg. In Supermärkten steht am häufigsten diese Art von Lebensmitteln kurz vor der Tonne“, sagt Caro.
Nach kurzer Autofahrt parken wir am Lieferanteneingang. Mit großen Plastikbehältern und Gemüsekisten ausgerüstet, klingeln wir. Eine Minute später öffnet ein für die Retterinnen bekannter Mitarbeiter die schwere Eisentür. Man kennt sich. „Wir organisieren uns in kleineren Gruppen. Für jeden Betrieb gibt es eine Gruppe mit einer/einem Betriebsverantwortlichen. Online auf der Plattform, per Telefon und natürlich persönlich stimmen wir ab, wer wann wo vor Ort ist“, wird mir erklärt, „wir wollen es den Kooperationspartner*innen vor Ort so einfach wie möglich machen.“
Wir stehen auf einer zwar überdachten aber trotzdem zugigen Plattform umgeben von verschiedenen Müllschächten für Plastik, Pappe und Reste. Neben einem großen Stapel klappbarer Gemüsekisten liegt unsere Palette mit Gemüse und Obst. Ich bekomme Handschuhe mit der Aufforderung zugeworfen, ruhig beim Sortieren mitzuhelfen: „Hygiene spielt bei uns eine sehr wichtige Rolle.“
Keimfrei wühlen wir uns also durch acht Gemüsekisten und füllen das immer noch gute Gemüse nach und nach in vier mitgebrachte Boxen. Am Ende bleibt eine Kiste übrig, die wir schweren Herzens doch entsorgen müssen. „Zwischendurch sind auch schon mal wirklich nicht mehr gute Salate, Pilze und Rosenkohlröschen dabei. Sowas lassen wir dann einfach gleich hier. Auf Schimmelsporen, faulige Gerüche und auffällige Verfärbungen achten wir ganz genau. Von reinen Ablaufdaten lassen wir uns allerdings nicht abschrecken“, erheben die Retterinnen die Finger. So landen am Ende unserer halbstündigen Aktion knapp 30 Kilo gute, essbare Lebensmittel in unserem Kofferraum. Im Verhältnis zur Größe des Supermarktes wundere ich mich ehrlich gesagt über diese überschaubare Menge. „Das war zu Beginn der Kooperation deutlich mehr. Heute kann die Einkäuferin der Gemüse- und Obstabteilung mit kleineren Verpackungsmengen hantieren. Das bedeutet, sie muss nicht beispielsweise drei Paprika wegwerfen, weil eine in der Tüte beschädigt ist.“
Siehe da: Die Verantwortlichen in der Produktion und im Handel sind doch lernfähig. Ich wage mal die These, das liegt nicht zuletzt am Foodsharing als ständige Erinnerung daran, wie viel und unnötig jeden Tag weggeworfen wird. „Darum geht es uns auch in erster Linie: kostbare Lebensmittel sollen nicht mehr verschwendet werden. Je weniger wir retten müssen, desto besser“, bestätigt Caro und sie ergänzt: „Den größten Teil der 11 Millionen Tonnen im Jahr werfen mit über 6,5 Millionen Tonnen übrigens die privaten Haushalte weg. Das sind 132 kg pro Kopf. Daher retten wir nicht nur selbst Essen beim Handel, sondern versuchen, das nachhaltige und ökologisch verantwortungsvolle Verhalten jedes Einzelnen zu fördern, wo wir können.“ „Dann gibt es Euch ja bald nicht mehr“, fällt mir dazu ein. „Genau! Wir sind hier, um uns abzuschaffen“, reagiert sie darauf.
Nachdem wir mit dem ganzen Gemüse wieder im Auto sitzen, geht es schon zurück. „Und was nun?“, frage ich neugierig. „Einen Teil bringen wir einem Verteilfahrrad“, höre ich vom Fahrersitz. Verwirrt guckend, aber nicht weiter nachfragend warte ich das weitere Geschehen ab und sehe uns nach kurzer Zeit vor einem Grundstück direkt an einer größeren Verkehrsstraße halten. Im Garten direkt am Zaun steht … ein Fahrrad. Vorne am Lenker und auf dem Gepäckträger sind durchsichtige Behälter angebracht. „So sehen Vorbeilaufende sofort, ob was im Verteiler ist“, erklärt Caro. Gute Idee! So landet das gerettete Essen im Handumdrehen auf heimischen Tellern. „Ich kenne die Mieter hier und ich sage natürlich vorher Bescheid, damit sie sich herausnehmen können, was sie mögen“, versichert sie mir und ergänzt. „Offizielle „Fair“teiler sind auch auf unserer Plattform vermerkt. Aus Gründen der Lebensmittelsicherheit müssen dabei bestimmte Bedingungen erfüllt sein, beispielsweise ein Kühlschrank, der regelmäßig zu putzen ist.“
Jetzt haben wir aber immer noch eine ganze Menge Gemüse übrig. Obwohl ich damit in dem Ausmaß nichts anzufangen wüsste, bestätigen mir die beiden Retterinnen von vorne im Auto während wir wieder zurück nach Endenich fahren: „Wir kochen wirklich jeden Tag. Zu Hause, bei Freunden oder sogar in der Schnibbeldisko, das wöchentliche Gemeinschaftskochen in der alten VHS.“
Wir verabschieden uns am Treffpunkt von heute Mittag und verabreden uns gleich noch zu einer weiteren Rettung bei einer Bäckereikette in der Innenstadt. „Acht Uhr, bring Handschuhe, Boxen und Tüten mit. Alles, was für den Transport von belegten Brötchen, klebrigen Teilchen und Blätterteiggebäck geeignet ist. Sei pünktlich!“, ruft mir Caro noch hinterher.
Zu Hause suche ich meine Satteltaschen, Ikea-Tüten, Tupperdosen und Plastikeimer zusammen. Putzhandschuhe habe ich doch auch noch irgendwo. Als semi-aktiver Foodsaver habe ich bei meinen wenigen Aktionen – bisher war ich meistens nach Events wie Weihnachtsfeiern oder Sportveranstaltungen dabei und habe die Reste dann zur Heilsarmee (gibt es jetzt leider nicht mehr) gebracht oder in Seniorenheimen abgegeben – so schon das ein oder andere Essensretter-Utensil ergattert.
Punkt acht kommen wir beide vor der Filiale an. Die Stühle stehen schon auf den Tischen. Die Putzkolonne möchte loslegen. Die letzten Gäste gehen gerade. Der freundliche aber kurz angebundene Mitarbeiter kennt Caro und zeigt uns, was heute übriggeblieben ist. „Handschuhe an und los! Kümmerst Du Dich um die belegten Brötchen? Dann packe ich die Teilchen ein“, werde ich dankenswerterweise angewiesen. Ich fühle mich gehetzt, aber das ist wohl normal. Nachdem ich mit der Tetris-Musik im Kopf alle belegten Brötchen – bestimmt 70 Stück – in eine große, flache, rechteckige Plastikbox einsortiert habe und sich die Foodsaverin in Windeseile um alles andere gekümmert hat – in meinem Groove konnte ich gar nicht so genau hinschauen –, verzurren wir die Leckereien nach nur zehn Minuten schon auf unsere Fahrräder. Anders als heute Mittag beim Supermarkt finde ich das Verhältnis von geretteter Menge Essen zu Ladengröße hier enorm. „Jab, es lernt halt nicht jeder dazu“, bekräftigt sie mich.
Während ich in meinem Kopf noch überlege, wer das alles essen soll, machen wir uns auf den Weg zur alten VHS. Perfekt, denke ich mir, da muss ich eh noch hin. Kleiner Exkurs für diejenigen, die nicht wissen, was die alte VHS ist: Ein Ort der Begegnung, des Zusammen-, kreativ und frei seins. Selbstverwaltet und -organisiert treffen sich hier täglich viele Menschen und Initiativen, um sich unkommerziell, solidarisch und offen auszutauschen. Und wir sorgen heute für die kulinarische Verpflegung.
Auch hier ist Caro bekannt. Nach ein wenig Absprache drapieren wir die belegten Brötchen auf einem silbernen Tablett im Salon, der um diese Zeit bereits gut gefüllt ist. Die ersten Gäste greifen direkt zu. Die anderen Teilchen füllen wir in handliche Beutel und stellen alles in den Kühlschrank, der sich im Raum auf der rechten Seite der Treppe (in Richtung Salon) befindet. Für die trockenen Brötchen steht direkt daneben ein großer Behälter. Nun ist alles an seinem Platz und Caro muss schon wieder weiter. „Vielen Dank für Deine Zeit und die ganzen Einblicke und Infos!“, verabschiede ich mich, „Glaubst Du wirklich, Deine Arbeit ist bald getan?“ Mit einem Blick voller trauriger Gewissheit und feurigem Eifer steigt sie aufs Rad und fährt. Die Frage kann ich mir mit Nein getrost selbst beantworten.
Ich gehe wieder in den Salon und beobachte, während ich so mit meinem Redaktionskollegen Marian über seinen SoLaWi-Artikel spreche, wie nach und nach alle belegten Brötchen von hungrigen Gästen verspeist werden. Auch ein letzter Blick in den Kühlschrank beim Weg nach draußen zeigt: Alles schon wieder weg.
Auf meinem Weg nach Hause fühle ich mich stolz und nachdenklich. Ohne uns wären heute knapp 50 Kilo hochwertige Lebensmittel im Müll gelandet. Nur in Bonn, nur heute, nur bei zwei Betrieben. Morgen geht es schon weiter. Ich wünsche den über 39.000 aktiven Foodsaver*innen mit den 4.500 mitmachenden Betrieben und 1,2 Millionen Rettungseinsätzen viel Durchhaltevermögen. Das Netzwerk konnte bisher zwar seit Gründung 2011 über 18,7 Millionen kg Essen retten. Aber der Weg bis zum Ende der Verschwendung scheint noch sehr weit.
Erschienen in der Ausgabe März/April 2020
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