Lebensmittel wertschätzen statt wegwerfen

11. März 2020 | Gesellschaft, Esther & Andreas Reinecke-Lison, Nachhaltigkeit | 0 Kommentare

Die Tafeln: Solidarität mit Bedürftigen, Verteiler des Überflusses

Trotz jahrelangen ökonomischen Aufschwungs gibt es in Deutschland viele Menschen, die Monat für Monat zu wenig Geld haben, um sich ausreichend ernähren zu können. Gleichzeitig werden Unmengen an Lebensmittel auf verschiedene Weise verschwendet. Um beide Probleme kümmern sich Tafeln, in Deutschland, Europa und der Welt. Damit werden Verteilungsungerechtigkeiten gemildert, Lebensmittelüberschüsse sinnvoll verwendet und es wird aktiv gegen Ressourcenverschwendung und Klimawandel gehandelt.

Esther und Andreas Reinecke-Lison

„Je besser es den Menschen geht, desto stärker erleben wir eine Entsolidarisierung unter ihnen.“

(Regine Hildebrandt, Ministerin für Arbeit und Soziales in Brandenburg 1990 bis 1999)

Beim Thema Armut kommt den meisten Menschen nicht sofort Deutschland in den Sinn. Doch hier, in einem der reichsten Länder der Welt, ist Armut weit verbreitet. Nach dem 5. Armutsbericht der Bundesregierung 2017 leben fast 13 Millionen Menschen an der Armutsgrenze (1.096 Euro im Monat für einen Erwachsenen) oder in Armut. Betroffen sind alleinerziehende Frauen, Rentner*innen; Migrant*innen, Niedriglohnsektor-Arbeitnehmer*innen und 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche. Armut versteckt sich hinter Wohnungstüren. In der KiTa eines Bremer Viertels, in dem 50% der Familien von Hartz IV leben, brauchen Kinder montags die doppelte Essensration, weil sie am Wochenende kein ordentliches Essen bekommen haben. Gleichzeitig werden Lebensmittel entlang der gesamten Wertschöpfungskette im großen Maßstab verschwendet. Es gibt viele Ursachen: Bäckereien etwa werfen 10 bis 20% der Tagesproduktion auch deshalb weg, weil Supermarktketten fordern, dass alles, was zu Ladenschluss übrig bleibt, zurückgenommen werden muss. Endverbraucher verschwenden 56 % der Lebensmittel. In der Überflussgesellschaft ist durch die ständige Verfügbarkeit aller Lebensmittel zu einem niedrigen Preis das Bewusstsein verloren gegangen, wieviel Arbeit eigentlich in den Waren steckt. Es ist fraglich, ob das Ziel der UN-„Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“, die weltweite Lebensmittelverschwendung von 1,3 Milliarden Tonnen zu halbieren, erreicht wird. Die EU schätzt die Lebensmittelverschwendung in Europa auf 173 Kilogramm/Kopf. In Deutschland werden auf 15% der Anbaufläche Nahrungsmittel angebaut, die nie verzehrt werden; weltweit werden Anbauflächen von der Größe Chinas vergeudet und 8 % der globalen Treibhausemissionen verursacht, denn verrottende Lebensmittel verursachen Klimagase und steigende Temperaturen. In Deutschland verschwendete Lebensmittel kommen zu 20% aus Ländern, in denen Menschen hungern, aber die die Nahrung primär für lukrativen Export verwenden. Am Ende landen Mangos aus Kenia und Bananen aus Ecuador ungenutzt in deutschen Mülltonnen. Dekadenz zeigt sich mit steigendem Wohlstand. Das ist eine wirtschaftlich, ökologisch und ethisch skandalöse Situation, auf die die Politik nur zögerlich reagiert.

Verteilen statt Vernichten

„Selbst wenn es in unserer Gesellschaft keine bedürftigen Menschen gäbe, wäre es ein Gebot, hochwertige Lebensmittel vor der Vernichtung zu retten.“

Ulrich Kelber, MdB, Schirmherr Tafel Bonn

Genau an diesem Punkt setzt die Arbeit der Tafeln an, die diesen Widerspruch konstruktiv zu beheben versucht. Die Tafeln sammeln überschüssige, genießbare Lebensmittel ein und verteilen diese an Bedürftige.

Die Ur-Form der Tafel entstand als „Food Bank“ 1967 in Phoenix/Arizona, USA. John van Hengel sammelte Gemüse, Früchte und Brot aus Mülltonnen von Supermärkten ein und verteilte es an Wohlfahrtsvereine. Nach diesem Vorbild entstanden ab 1984 Organisationen auch in Europa. 421 Tafeln aus 24 Ländern sind als Fédération Européenne des Banques Alimentaires/FEBA organisiert. Ziel und Ideal von FEBA sind: „to reduce hunger and malnutrition by redistributing surplus food to the most deprived in Europe.“ Im argentinischen Cordoba lautet „unsere Hoffnung: Die Arbeit der Lebensmittelbank baut eine Brücke der Solidarität zwischen denen, die an Hunger leiden, und denen, die dieses Leid verhindern wollen.“

Die erste Tafel Deutschlands wurde 1993 in Berlin ins Leben gerufen; Obdachlose nutzten das Angebot. Doch seit den arbeits-, sozial- und wirtschaftspolitischen Veränderungen ab 2002 haben die Tafeln sich zur bundesweiten sozialen Bewegung entwickelt. Es gibt jetzt 947 Tafeln mit 60.000 Aktiven, die zu 90% ehrenamtlich arbeiten. Etwa 60% sind Projekte von Caritas, DRK, AWO, der Rest sind eingetragene Vereine. Sie kooperieren mit 30.000 Discountern und Großhändlern. Bundesweit erreichen sie 1,65 Millionen Bedürftige, darunter 30 % Kinder und Jugendliche.

Für Bedürftige sind die Tafeln eine existenzielle Notwendigkeit, um mit sehr knappen Mitteln über die Runden zu kommen. Wer zu Tafeln geht, ist jemand, der arm ist und am Wirtschaftsboom nicht teilhat. Dessen Leben ist geprägt von materiellem Mangel, vom Ausschluss am sozialen und kulturellen Leben. Eine Mitarbeiterin der Bonner Tafel: „Die meisten Leute schämen sich hierherzukommen. drucksen herum. Man merkt, dass die Menschen in Not sind, aber auch, dass die meisten sehr dankbar und freundlich sind. Wenn man wenig Geld hat, ist das mental anstrengend. Es beschäftigt einen schon sehr und alles ist schwieriger, umständlicher zu organisieren und zu erledigen. Die Menschen, die zur Tafel kommen haben Unterstützung nötig. Keiner kommt zum Vergnügen hierher.“

Manchmal werden Tafelnutzer*innen  als „neue Unterschicht“ diskriminiert. Dem treten die Tafeln entgegen. Sie sind solidarisch mit allen Bedürftigen, egal welcher Herkunft, Kultur und Religion. Der ehemalige Tafel-Vorsitzende Häuser: „Wir lehnen es ab, wenn Schwache gegen Schwächste ausgespielt werden.“ Tafeln können Armut nicht beseitigen, aber Not lindern.

“Den Hunger der Bedürftigen zu stillen, ist ein selbstverständliches Anliegen der Satten.”

Reinhard Wolf , Ehrenamtlicher Mitarbeiter Tafel Bonn

Die Bonner Tafel ist ein 1998 gegründeter gemeinnütziger Verein. 120 Mitarbeiter*innen arbeiten ehrenamtlich etwa beim Warentransport, Aussortieren und Verteilen von Lebensmitteln. Über 40 Geschäfte (Einzelhandel, Bäckereien, Discounter, Supermärkte) spenden Lebensmittel. Rund 20 Tonnen Obst und Gemüse, 1,5 Tonnen Milchprodukte, 3 Tonnen Konserven und 15.000 Backwaren holen die Ehrenamtlichen monatlich ein. Das alles ist qualitativ einwandfrei und kann verzehrt werden. Die Tafeln der Region sind miteinander vernetzt und tauschen untereinander Lebensmittel aus.

Der Verein erhält keine Mittel von Bund, Land oder Stadt, finanziert sich ausschließlich über Spenden. Seit 2017 werden etwa bei Basketball-Spielen zwischen Telekom Baskets und Frankfurt mit Erfolg Sachspenden für die Bonner Tafel gesammelt. Daneben sind Geldspenden erforderlich. Ganze Schulklassen spenden vom Taschengeld. Die Tafel nimmt aber auch Windeln oder Blumen an. Und nicht zuletzt spenden Privatpersonen: Während eines Informations-Telefonats der Verfasserin brachte ein Mann Grünkohl und eine Menge Walnüsse aus seinem eigenen Garten als Spende vorbei. Jede Woche erhalten über 4.500 Bedürftige Lebensmittel: Organisationen (KiTas, Seniorentreffs, Frauenhäuser) und 680 private Haushalte. Nach Bedürftigkeitsnachweis (Renten-, Hartz IV- oder Jobcenter-Bezug) ist man einmal wöchentlich zum Lebensmittelerhalt berechtigt. Neuerdings erhalten Behinderte Lebensmittel auch nach Hause geliefert.

Um 16 Uhr öffnet die Lebensmittelausgabe, die Menschen sind schon früher da. Denn „wir sind auch ein Ort der Begegnung. Hier treffen sie sich unter Gleichgesinnten und finden schnell gemeinsame Gesprächsthemen“, so eine Mitarbeiterin. Es ist meist brechend voll. Die Kapazitäten sind personell und räumlich erschöpft. Die Nachfrage steigt schneller als die Menge der Lebensmittelspenden. Ein 73jähriger Mann: „Ich habe mein Leben lang gearbeitet, dennoch reicht es jetzt nicht zum Leben für mich und meine kranke Frau. Ich weiß nicht, wie wir ohne die Tafel über die Runden kommen sollten. Das sind wirklich Engel, die hier arbeiten“, freut er sich.

Handeln

Die von Tafeln deutschlandweit geretteten etwa 264.000 Tonnen Lebensmittel machen laut WWF gerade 1,3% der in Deutschland verschwendeten Lebensmittel aus. Es gibt also noch viel Handlungsbedarf. Die EU hat 2018 eine Abfallrahmenrichtlinie zur Verringerung der Lebensmittelverschwendung verabschiedet. Länder können daraus sogar Gesetze ableiten. In Deutschland wurden lediglich die Kampagne „Zu gut für die Tonne“ und eine „Nationale Strategie“ initiiert. In Italien verteilt eine Reederei seit 2017 über „Banco Alimentare“ überzähliges Essen von Kreuzfahrten an Bedürftige in Hafenstädten. In Katalonien gibt es Spenden-Vereinbarungen zwischen „Bancs del Aliments“ und Supermärkten. Eine Supermarktkette verkauft auch Lebensmittel mit Schönheitsfehlern: „To buy the whole tree, the beautiful and the ugly, as we understand it is a good way to avoid waste.“

Doch: Wenn man will, dann kann auch das Engagement einer einzelnen Person die Gesellschaft verändern! In Frankreich konnte Rechtsanwalt Arash Derambarsh sich während seiner Studienzeit nur eine richtige Mahlzeit am Tag leisten. So entstand seine Petition, mit der 210.000 Unterschriften gegen Lebensmittelverschwendung gesammelt wurden, was 2016 zur Verabschiedung eines Gesetzes führte, nach dem Supermärkte ab 400 m2 Ladenfläche alle unverkauften Lebensmittel an Tafeln und Hilfsorganisationen weitergeben müssen. Er will jetzt das französische Gesetz auf die europäische Ebene auszuweiten: „Es geht darum, eine Antwort auf Hunger und Durst zu geben!“ Tschechien folgte 2019 diesem Vorbild.

Ein Alltag ohne soziale Demütigung – das ist das Grundrecht aller, ausnahmslos.

(Regine Hildebrandt)

Niemand möchte arm werden und nicht in der Lage sein, alltäglichste Lebensbedürfnisse zu verwirklichen. Monetäre Armut schließt Menschen von sozialer Teilhabe aus, führt zu sozialer Armut. Um ökonomische und soziale Armut zu bekämpfen, bedarf es einer generellen Bewusstseinsänderung aller Menschen. Wir tragen Verantwortung für unser soziales Umfeld. Jeder sollte sich bewusst sein, wie gut es ihm geht, dankbar für seine Situation sein und an die denken, die nicht in Wohlstand und Sicherheit leben.

2019 hat die Stadt Bonn an zwölf Schulen für zwei Jahre ein kostenloses Frühstück eingeführt, das Kindern ohne Frühstück zuhause oder ohne Pausenbrot die konzentrierte Teilhabe am Unterricht ermöglichen und zur Bekämpfung der Kinderarmut beitragen soll. In einem Bremer Viertel mit Bedürftigen versorgt Hoteldirektor Marc Cantauw sonntags Kinder mit kostenlosen Essen aus der Hotelküche: „Am meisten Spaß macht es, wenn mich ein Kind anstrahlt und sagt: ´Danke; Marc, das war lecker!´“ Tafel Deutschland fordert einen Bundesbeauftragten für Armut und entsprechende Mindestlöhne. Es gilt, das öffentliche Bewusstsein für Armut und soziale Ausgrenzung zu wecken. Jenseits der Frage, wie reformbedürftig ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist, das das Individuum idealisiert und den ökonomischen Erfolg zum obersten Ziel erklärt, sind Tafeln unverzichtbar im Kampf gegen Verteilungsungerechtigkeiten, für sinnvolle Verwendung der Lebensmittelüberschüsse und nicht zuletzt gegen Ressourcenverschwendung und Klimawandel.

„Die Debatte, wie die Sozialpolitik für diese Menschen verbessert werden muss, damit sie nicht auf Spenden angewiesen sind, halte ich für wichtig. Bis dahin und darüber hinaus aber gilt: Wenn man helfen kann, muss man helfen. Wenn man Lebensmittelüberfluss an der einen Stelle an Menschen weitergeben kann, die damit etwas anfangen können, darf man nicht untätig bleiben.“

Ulrich Kelber, MdB, Schirmherr Tafel Bonn

Literatur: Hank/Hopp: Skandal Armut. Lebensbilder aus unserer Mitte, 2011. Internet: bonner-tafel.de / tafel.de / fao.org / eu-fusions.org / general-anzeiger-bonn.de / magazin-restkultur.de / cruisetricks.de / catalannews.com

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