Die Kosmovision der Anden

10. Juni 2020 | Gesellschaft, Melanie Alessandra Moog | 0 Kommentare

Cusco und das Heilige Tal der Inka

Die Kosmovision der Anden, mit ihrem traditionellen Zentrum Cusco (Peru) als „Nabel der Welt“, hat seit jeher Suchende in ihren Bann gezogen. Was finden Menschen hier auf ihrer spirituellen Suche, sowohl in der alten Inkahauptstadt Cusco als auch im Heiligen Tal der Inka, welches sich entlang des Vilcanota-Flusses erstreckt und auf direktem Wege zum sagenumwobenen Weltwunder Machu Picchu führt?

 

Alessandra Moog

Auf der Suche nach dem Spirit

Auch im entlegenen Tal in den südlichen Anden, wo wir zur Zeit leben, ist die Nachricht vom Coronavirus eingetroffen. Obgleich es hier keinen Virusbefall gegeben hat, wurde rasch Quarantäne verhängt und die Landesgrenzen Perus sind geschlossen, vorsichtshalber. Unter normalen Umständen, so erzählen lokale Touristenführer*innen, Händler*innen und Ansässige, begänne nun mit der hiesigen Frühlingssaison, die Hauptreisezeit für Reisende aus aller Welt. Anfang April strahlt das Heilige Tal der Inka nämlich in sattem sonnenverwöhnten Grün, von der mehrmonatigen Regenzeit befruchtet, und zieht allerlei interessierte Reisende aufgrund seiner Mystik, seiner lebendigen folkloristischen Kultur und der Vielzahl archeologischer Stätten aus der Inka-Zeit an.

Nun also mache ich es mir eben in Quarantäne daheim im Naturlehmhaus gemütlich, sehe noch einen der letzten kräftigen Regenschauer vorbeiziehen, der die Intihuatana-Ruinen durchnässt, die hoch oben auf dem Berg hinter unserem Garten emporragen und grabe im Schatz meiner Erinnerungen. Ich möchte vom geheimnisvollen Cusco, dem Heiligen Tal und seinem Spirit erzählen, der seit vielen Jahren Millionen Suchende hierher gezogen hat. Und ich möchte enthüllen, warum sie wohl so magnetisch sein mag, diese Region, mit ihrer einzigartigen Geschichte und ihren besonderen Menschen. Und so suche ich in Büchern und Gedanken nach diesem gewissen Spirit der Anden.

Geborgen im Gewebe der Ahnen

Ich erinnere mich an das kunstfertig von Hand gewebte und gestrickte Textil, wie es farbenfroh in der Andensonne strahlt: In den kleinen Läden Cuscos werden Tücher, Ponchos und vieles mehr feilgeboten, für die kalten Nächte, für einen frischen Tag. Sie kommen aus den Dörfern, in denen teils noch nach den spirituellen kommunalen Prinzipien des Ayllu (Gemeinschaft) und Ayni (Reziprozität) gelebt wird. Im hochgelegenen Barrio von San Blas, auf beinahe 3.400 Höhenmeter, heißt es tief durchatmen, pausieren, des Moments gewahr werden.

Heute und vielleicht noch für mehrere Wochen sind die hübschen Läden zwecks Quarantäne geschlossen. In meiner Erinnerung bin ich an eine schattenspendende Steinmauer gelehnt und wie meditativ wandert mein Blick über das sorgsam in seinen Farben, Mustern und Figuren in sich komponierte Textil der Andenbewohner, deren Tradition urtümlich und bedeutungsträchtig ist. Nicht zufällig fliegt dort ein majestätischer Kondor über die mit natürlichem Eukalyptussud grau gefärbte Alpacawolle und nicht ohne einen tieferen Sinn finden sich Figuren wie Krüge, Schlangen, Zickzacklinien, Ackerbauern, Jaguare und bestimmte Farbkombinationen – die Gewebe erzählen uns alte Mythen und Geschichten; wir sind geborgen im Gedankennetz der Ahnen, in der Kosmovision der Anden.

Die Welt der drei Welten

In der Anden-Philosophie wird die Welt in drei geteilt: Uku Pacha (Unterwelt, repräsentiert durch die Schlange), Kay Pacha (Menschenwelt, dargestellt durch den Jaguar) und Hanan Pacha (obere Welt, symbolisiert durch den Kondor). Daher finden sich diese Tiersymbole im farbenfrohen Textil der Anden häufig wieder. Das Dreigespann der Welten ist bildlich eingeschlossen im sogenannten Tawa Chakana. Dies ist ein Begriff der Quechua-Sprache und wird mit „Andenkreuz“ übersetzt. Das Andenkreuz zeigt die drei Welten anhand seiner Stufenform.

Während die Unterwelt den Raum der Verstorbenen, Ungeborenen und alles Unterirdischen symbolisiert, ist Kay Pacha die Welt der Menschen, Tiere, Pflanzen und Minerale. Hanan Pacha zuletzt ist die Welt der Sterne, Götter und Geister, insbesondere des Sonnenvaters Tayta Inti und der weiblichen Mondgöttin Mama Killa. Insgesamt ist alles Beobachtbare aus der Natur wichtig: Natürliche Erscheinungen rund um die Elemente und das Firmament konstituieren die Grundlage der Anden-Spiritualität, deshalb kann diese auch Menschen aus anderen Kulturen leicht und anschaulich begreifbar werden.

Das Andenkreuz visualisiert zudem die vier Himmelsrichtungen bzw. die vier Bestandteile des Inkareichs in seiner maximalen Ausdehnung (Tahuantinsuyo). Es erstreckte sich von Kolumbien über Ecuador, Peru und Bolivien bis zu Teilen des heutigen Chile und Argentinien. In der Mitte des Chakana-Kreuzes findet sich ein Kreis. Dieser stellt die ehemalige Hauptstadt des Inka-Imperiums, Cusco, als den „Nabel der Welt“ dar.

Reise zum „Nabel der Welt“

Sinnbildlich zog es spirituell Suchende demnach zurück zum Nabel der Welt, Cusco. Die imposanten Apus der Region haben viele Wanderer aus aller Welt vorbeiziehen sehen. Apus, das sind heilige, als beseelt gedachte Berge. Es gibt männliche und weibliche Apus mit bestimmten Qualitäten. So gilt etwa Apu Ausangate (6384 m ü. N.N.) südöstlich von Cusco als Apu der Initiation und spirituellen Krafterweiterung. Traditionell wird den Apus in Ritualen gedankt, bei denen die Blätter des heiligen Koka-Strauchs Verwendung finden. Hierfür werden drei Blätter zwischen den Fingern gehalten, es wird meditiert und dann gegen die Blätter gepustet. Der Glaube dahinter ist, dass Emotionen durch das Pusten Befreiung finden.

Im Sinne eines Despacho (Ritual zum Dank für die Erde, Pachamama) wird diese Prozedur mehrmals wiederholt und schließt Dank, Bitte und Kommunikation mit den Apus ein. Die Formen und die Lage der Koka-Blätter können im Sinne eines Orakels gedeutet werden. Reiseanbieter wie PARWA-Adventures im Sacred Valley bieten seriöse, individuelle Kombi-Pakete an: Teilnahme an indigenen Ritualen der andinen Kosmovision, Wanderungen, Besuche archäologischer Stätten und vieles mehr.

Die Reise als Trip

In Peru sind der Gebrauch, der Vertrieb und die Gabe bestimmter stärkerer, auch psychedelisch wirkender Pflanzensubstanzen legal – dies ist mit den Jahren zunehmend zu einem starken Tourismusfaktor geworden. Unter diese Substanzen fällt der traditionell von indigenen Kulturen, auch im Inkareich verwendete Kaktus Echinopsis pachanoi (Huachuma oder San Pedro) und das Lianengebräu Ayahuasca aus dem Dschungel, zusammengestellt aus der Liane Banisteriopsis caapi sowie DMT-haltigen Pflanzen wie Psychotria viridis (Chakruna). Diese ursprünglich in religiösen Zeremonien verwendeten Pflanzen ermöglichen einen von Visionen begleiteten veränderten Wachzustand, in dem Traumata bearbeitet und sprituelle Helfer kontaktiert werden.

Diese eigentlich indigenen Traditionen als Teil der Entwicklung im Tourismus sind ein kontroverses Thema, da es in diesem Kontext vereinzelt zu kriminellen Übergriffen oder gesundheitlichen Problemen gekommen ist. Anstatt die erhoffte Erleuchtung zu erleben, kann dann leider in den dunklen Abgrund des Menschseins geblickt werden. Die spirituellen Traditionen prähistorischer Kulturen, die im Raum Cusco noch nachschwingen und teils touristisch vermarktet werden, sollten daher mit Respekt und einer gesunden Portion kritischen Menschenverstandes wahrgenommen werden.

Dieser Artikel erschien in der BUZ-Ausgabe Mai/Juni 2020.

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