Gemeinsam kommt man weiter

Schon Winston Churchill wusste, dass Demokratien unvollkommen sind: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Doch die vielfältigen krisenhaften Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft lassen viele Menschen bezweifeln, dass die Gewählten im Sinne der Wähler*innen regieren. Ein Misstrauen gegenüber Politik und den Entscheidungen in der repräsentativen Demokratie wächst in einem Ausmaß, dass sie als solche in Frage zu stehen scheint. Lässt sich das politische System ändern?


Esther und Andreas Reinecke-Lison


Anfänge

Politischer Prozess sollte nicht Parteiensache, sondern Gesellschaftssache sein.“ Rita Süssmuth
In den 1970er Jahren begannen die Menschen in Demokratien, sich nicht mehr nur mittelbar an Wahltagen, sondern unmittelbar und fortwährend an politischen Entscheidungen zu beteiligen, etwa durch Bürgerinitiativen. Zugleich wurde im akademischen Raum über eine „Demokratisierung der Demokratien“ nachgedacht. Es entstand das Konzept der „Deliberativen Demokratie“, das eine öffentliche Beratung politischer Themen und die aktive Teilhabe der Bürger beinhaltet. Eine Ausprägung davon ist der Bürgerrat, dessen Aufbau und Ablauf bestimmten Grundprinzipen folgt:
• Bürger*innen werden zufällig aus der Bevölkerung ausgelost und zur
• Teilnahme an einer zeitlich begrenzten Beratung eines politisch und sozial bedeutsamen Themas eingeladen,
• um in moderierten Gruppen darüber zu diskutieren und gemeinsam Lösungen zu entwickeln.
• Expert*innen liefern das erforderliche Hintergrund- Fachwissen.
• Abschließend werden Empfehlungen beschlossen, die als Bürgergutachten an die etablierten politischen Gremien weitergegeben werden.
Die Bildung von Bürgerräten wird meist von Politik oder Verwaltung angeregt. Es gibt sie auf allen politischen Organisationsebenen: supranational, national, regional, kommunal. Sie werden seit den 2010er Jahren häufiger gebildet, auch um aktueller Politikverdrossenheit oder Demokratiemüdigkeit entgegenzuwirken. Entgegen der Wahrnehmung durch Medien und die Bevölkerung gibt es davon mehr als man denkt. Und es gibt sie schon länger als man denkt. In Deutschland werden sie schon seit den 1970er Jahren unter dem Begriff „Planungszelle“ durchgeführt, ein Verfahren, das von Peter C. Dienel, seinerzeit Professor an der Universität Wuppertal, entwickelt worden ist. Ein Anwendungsbeispiel ist die Planung der Bebauung und Nutzung des Geländes Rathaus/Gürzenich in Köln. Weil ein Architekturwettbewerb 1979 keine stimmige Lösung ergab, beschloss der Stadtrat, die Meinung der Bürger*innen einzuholen. 250 zufällig ausgeloste Bürger*iinnen der Stadt berieten in zehn Planungszellen über Bebauung, Verkehr und Nutzungsarten, zudem fanden vor-Ort-Begehungen statt. Die von den Bürger*innen „mit Tatkraft, Kreativität und demokratischem Bewusstsein“ erarbeiteten Empfehlungen wichen stark von den Vorschlägen der Architekt*innen ab und sahen einen wesentlich höheren Anteil an Wohnnutzung und mehr Freiflächen vor. Der Stadtrat stimmte den Planungszellen-Empfehlungen zu, und sie gingen als verbindliche Vorgaben in einen neuen Architektenwettbewerb ein. Ein Architekt sagte daraufhin seine Mitarbeit ab: „Wofür habe ich eine jahrelange Ausbildung erhalten, wenn jetzt jeder planen und entscheiden kann.“ Der Bereich Rathaus/ Gürzenich wurde gemäß den Vorschlägen des Bürgergutachtens gestaltet.
Als erfolgreiche Bürgerräte der jüngsten Zeit gelten irische Versammlungen zwischen 2012 und 2018, von denen manche Empfehlungen in Verfassungsänderungen mündeten.

Klima-Bürgerräte

„Unsere Demokratien stehen vor einer Klimakrise, die gefährden könnte, dass sie Demokratien bleiben.“ Loic Blondiaux, französischer Politikwissenschaftler
Bürgerräte werden auch zur Bewältigung des Klimawandels einberufen. Die Diskussionen und Empfehlungen der Klima-Bürgerräte behandeln dabei meist die Sachgebiete:
• Wohnen,
• Ernährung und Konsum,
• Verkehr,
• Energie,
• Arbeit und Produktion sowie
• Natur, Boden, Landwirtschaft.
„Wir sind uns der Dringlichkeit der Situation bewusst, sei es für das Klima, die biologische Vielfalt oder den Alltag der schwächsten Menschen.“ Aus der Präambel des Beschlusses des Klimarats Est Ensemble/Frankreich

Klima-Bürgerrat global

Zwischen Oktober und Dezember 2021 fand online die Global Citizens Assembly, ein von Wissenschaftlern und Nichtregierungsorganisationen konzipierter Globaler Bürgerrat, statt. 100 ausgeloste Menschen aus aller Welt stellten die ganze Vielfalt der Menschheit dar und brachten ihre kollektiven Weisheit in Empfehlungen ein, die sie der 26. Welt-Klimakonferenz COP 26 der UN in Glasgow 2021 vortrugen. Neben dem Einsatz sauberer Energien sind das unter anderem:
• Das Recht auf eine saubere Umwelt muss in die UN-Menschenrechtscharta aufgenommen werden. Denn Umweltkrisen untergraben Menschenrechte, führen zu Ernährungsunsicherheit, Armut, Krankheit und Migration.
• Es muss anerkannt werden, dass die Natur einen intrinsischen Wert und Rechte hat.
• Ökozid (die Schädigung oder Zerstörung der Ökosysteme) muss als Verbrechen in internationale und nationale Gesetze aufgenommen werden.
• Für eine entsprechende Bewusstseinsentwicklung müssen die Regierungen Bildung und gesellschaftliches Engagement fördern. Zur Verbesserung der globalen Demokratie planen die Organisator*innen langfristig, dass jährlich mehr als zehn Millionen Menschen an einem Welt-Bürgerrat teilnehmen.

Klima-Bürgerrat (inter)national

„Wir müssen neue Formen der Demokratie erfinden, das ist unerlässlich. Die repräsentative Demokratie hat gut funktioniert: Heute ist sie dazu nicht mehr in der Lage“, Loic Blondiaux, französischer Politikwissenschaftler
Ein bemerkenswerter nationaler Klima-Bürgerrat fand in Frankreich statt, den Präsident Macron als Reaktion auf die „Gelbwesten“-Proteste 2018/19 Frankreichs im Rahmen einer „Großen Nationalen Debatte“ einberief.
150 zufällig ausgewählte Bürger*innen machten sich engagiert an die Arbeit und stellten in 21 Sitzungstagen zwischen Oktober 2019 und Juni 2020 insgesamt 149 Empfehlungen zusammen, darunter:
• das Verbot von Werbung für klimaschädlichste Produkte, um „Überkonsum“ zu reduzieren,
• das Verbot von Inlandsflügen, wenn das Ziel mit der Bahn in bis zu 4 Stunden erreichbar ist,
• die Reduzierung der Bodenversiegelung,
• die Reduzierung des Einsatzes von Stickstoffdüngern in der Landwirtschaft,
• die Schaffung eines Straftatbestands „Ökozid“, also die Zerstörung eines Ökosystems durch Umweltverschmutzung.
Doch aus der Ankündigung Macrons, die Empfehlungen „ohne Filter“ entweder an das Parlament weiterzuleiten oder den Bürger*innen in einem Referendum vorzulegen, wurde nichts. Einige Vorschläge wurden gleich von ihm abgelehnt, wie die Senkung des Autobahn-Tempolimits auf 110 Stundenkilometer oder eine Abgabe auf Dividenden zur Energiewende-Finanzierung. Bei anderen Vorschlägen nahm das Parlament Abstriche vor. In einem Gesetzespaket in Juli 2021 wurden schließlich 46 Vorschläge des Klima-Bürgerrates übernommen, aber 25 nicht berücksichtigt und 75 verwässert, wie etwa der Straftatbestand „Ökozid“. Zudem gelang es nicht, den Klimaschutz per Referendum in die Verfassung einzufügen. Denn die politischen Parteien konnten sich in den Gremien nicht auf einen gemeinsamen Text für das Verfassungsänderung- Referendum einigen. „Wir wollten glauben, dass die Politik in der Lage sein würde, ideologische Unterschiede zu überwinden, zum Wohle des Klimas. Es ist ein großes Versagen.“, so der Bürgerrat-Teilnehmer Grégoire Fraty

 Klima-Bürgerrat regional-kommunal

Est Ensemble ist ein dicht besiedelter Verbund von neun Kommunen östlich von Paris, in dem 30 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt.
„Wir wurden ausgewählt, um die Vielfalt des Gebiets zu repräsentieren. Wir sind weder militant noch Umweltaktivisten.“ Aus der Präambel des Beschlusses des Klimarats Est Ensemble 100 ausgeloste Bürger*innen haben an fünf Wochenenden zwischen September 2021 und Januar 2022 als Klima-Bürgerrat getagt. Aufgrund ihrer Erlebnisse und Erfahrungen vor Ort konnten die Teilnehmer*innen schon ihre eigenen Diagnosen erstellen, ohne allzu sehr von Expertenwissen abhängig zu sein. Die erarbeiteten Empfehlungen sind daher sehr lebensnah und pragmatisch und beinhalten unter anderem:
• die Anpassung an Hitzewellen durch Erhöhung des Grün- und       Freiflächenanteils, Begrenzung der Hitzeinseln,
• die Ausbildung von „Klimabotschafter*innen“ in Schulen,
• die energetische Sanierung schlecht isolierter Wohnungen sowie
• die vorrangige Vergabe von Sozialwohnungen und leerstehenden Privatwohnungen an die am wenigsten begüterten Menschen, um für angemessenen Wohnraum für diese „plusprecaires“ zu sorgen.
„Wir möchten, dass wir letztendlich alle zusammenleben können, ohne die Gegensätze zwischen Ärmsten und Wohlhabendsten in unseren Blicken zu tragen.“
Im Mai 2022 haben die Abgeordneten des Gemeindeverbundes nur 12 der 220 vom Bürgerrat entwickelten Vorschläge nicht angenommen, weil sie bereits umgesetzt worden seien oder nicht in den Zuständigkeitsbereich des Kommunenverbunds gehörten.
„Wie man so schön sagt: Allein geht es schnell, aber gemeinsam geht es weit.“ David, Mitglied des Klimarats in Est Ensembe

Klima-Bürgerrat mit Kindern

Die vielfältige Zusammensetzung eines Bürgerrats garantiert, dass von den Beteiligten unterschiedlichste Erfahrungen und Kompetenzen eingebracht werden. So kommt es zu besseren Lösungen als bei einer Gruppe einander ähnlicher Menschen.
Bei der nachhaltigen Gestaltung einer lebenswerten Zukunft kann es aber nicht nur um das wohl der jetzigen, sondern vor allem der künftigen Generationen gehen. Daher wäre es auch sinnvoll, wenn die Meinungen von Kindern bei Beschlussfassungen berücksichtigt werden: „Es ist auch unser Land, und wir haben das Recht, angehört zu werden“, so die zwölfjährige Margaret, Teilnehmerin des schottischen Kinderparlaments.
Beim nationalen Klima-Bürgerrat in Schottland 2021 waren daher auch Ideen von Kindern ab sieben Jahren gefragt. Das über100 Mitglieder starke, seit 1996 bestehende schottische Kinderparlament machte sich in fünf Monaten mit Expert*innen-Unterstützung über den Klimawandel vertraut. 12 Kinder vertraten die Empfehlungen des Kinderparlaments gegenüber den erwachsenen Mitgliedern des Bürgerrates.
Dazu gehört
• die Verkürzung der Arbeits- und Schulzeiten, um mehr Zeit zu haben, Nahrungsmittel anzupflanzen und Dinge zu reparieren,
• ein nationaler Baumpflanztag,
• die Nutzung von Torfgebieten zum Schutz der Umwelt.
Die Empfehlungen des Kinderparlaments stehen im schottischen Bürgergutachten gleichberechtigt neben denen des Klima-Bürgerrates der Erwachsenen. Sie wurden im November 2021 auch Teilnehmer*innen der 26. Welt-Klimakonferenz der UN (COP 26) präsentiert.

Fazit und Ausblick

„Demokratie muss in Bewegung bleiben, wie ein Strom, fortwährend.“ Tschingis Aitmatow, Schriftsteller aus Kirgisistan Bürgerräte haben vielerlei positive Wirkungen für die Demokratie und die Wahrnehmung von Politik: • Die Bürger*innen haben keine Wahlen, keine Parteilinie, keine Lobbyinteressen zu berücksichtigen.
• Das Phänomen, dass sich bestimmte soziale Gruppen zu wenig beteiligen, andere zu dominant sind, wird hier vermindert.
• Durch den direkten Austausch und durch Expertenwissen haben Hass und manipulierte Nachrichten weniger Durchsetzungschancen, denn „Information ist die Währung der Demokratie.“ Thomas Jefferson
• Die so gewonnenen Empfehlungen genießen hohe Anerkennung in der Bevölkerung.
• Die so gewonnenen Empfehlungen genießen hohe Anerkennung in der Bevölkerung.
Die Erfahrungen zeigen aber auch, dass das Verfahren optimiert werden kann. Wenn ein Klima-Bürgerrat zu wenig Zeit bekommt, um das komplexe Thema zu durchdringen und Empfehlungen zu formulieren (in Amsterdam waren es nur zwei Wochen), setzt das die Bürger*innen zu sehr unter Druck.
Optimiert werden kann auch die Position von Bürgerräten im politischen System:
• Mit Ausnahme von Spanien sind Bürgerräte nicht in Gesetzen oder Verfassungen als Institution fest verankert, sondern werden einberufen – oder nicht.
• Es fehlt auch das politische Gewicht: Bürgerräte können nur Empfehlungen aussprechen, keine Beschlüsse fassen.
• Empfehlungen, die von Politik oder Verwaltung zurückgewiesen oder verwässert werden, können aber weitere Politikverdrossenheit erzeugen – und zwar dann unter denen, die besonders große Fürsprecher der repräsentativen Demokratie sind.
Doch auch wenn Bürgerräte in dieser Form sich nicht als die optimale Lösung erweisen sollten: In einem autoritären System zu leben, es hinnehmen und bejubeln zu müssen, darin schweigen und leiden zu müssen, ist keine Alternative. Demokratien lassen sich nämlich weiterentwickeln. Sie sollten bei Entscheidungsfindungen in Zukunft mehr direkte Teilhabe der Bevölkerung zulassen und fördern. „Der Vorzug der Demokratie ist, dass ihre Fehler korrigierbar sind.“ Karl Popper, Philosoph
Schließlich werden demokratische Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit, Meinungsfreiheit und faire Wahlen von über 90 Prozent der deutschen Bevölkerung nicht angezweifelt (laut Umfrage der Körber-Stiftung Juli 2023). Daher gilt es, zuversichtlich vorauszublicken:
„Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.“ Willy Brandt
Informationsquellen-Auswahl: buergerrat.de // globalassembly.org // ensemblepourleclimat. est-ensemble.fr // scottishparliament.tv // planungszelle.de // zukunftsrat.koeln // Bürgergutachten

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