Licht und Schatten des Reisens
Italienreisen waren schon im 19. Jahrhundert sehr beliebt, als Privileg begüterter Kreise, vornehmlich des Adels und in Künstlerkreisen. Der Reichtum an kulturellen Gütern, der leichte Lebensstil des „dolce vita“, die wunderbaren Landschaften, die Nähe zum Meer, der vorzügliche Rotwein und das vermeintlich stets gute Wetter waren die Attraktionen des fernen Landes.
Rebecca Borgo
Für uns Italiener*innen war dies alles etwas Alltägliches. Was ganz Besonderes war und ist nur der 15. August, „ferragosto“.
An diesem Tag ist Ausnahmezustand in ganz Italien: die Geschäfte sind geschlossen, die Werkstätten bleiben verwaist. Alle wollen ans Meer und – stecken im Stau auf der Autobahn. Reisen im eigenen Land war so stets eine Herausforderung.
Die Sehnsucht der Deutschen nach Italien wurde immer schon auf eine harte Probe gestellt. Die Alpen erwiesen sich als unbequeme Barriere. Ob über die Passstraßen oder durch die Tunnel, die Reise nach und in Italien ist ein Abenteuer. Bereits Hannibal hatte da seine Probleme, aber immerhin hatte er seine Elefanten dabei. Heute sind die Autobahnen über die Alpen durch Kolonnen von Lastwagen geprägt. Auch die privaten Kraftwagen sind nicht nur mehr, sondern immer größer geworden; der Verkehr zähflüssiger, Staus wahrscheinlicher. Aber stets lockt das Ziel: die Strände an der West- und Ostküste, die berühmten Kunstwerke und -schätze. In den Sommermonaten sind beliebte Regionen vielerorts überfüllt und überfordert.
Tourismus bereichert und belastet
Woanders hinkommen und woanders sein, erweist sich häufig als zwei paar Schuhe. So ächzt Venedig unter dem Besucherstrom schon seit Jahren. Besonders problematisch ist der Zuwachs an Tagesbesucher*innen. So hat die Stadtverwaltung eine Notbremse gezogen: Venedig kostet Eintritt. Die großen Kreuzfahrtschiffe dürfen nicht mehr Venedig anfahren. Doch ebenso problematisch ist es für kleinere Orte, wenn die Zahl der Tourist*innen die Zahl der Einwohner*innen übersteigt. Gleichwohl leben solche beliebten Orte auch vom Tourismus. Immer wieder wird das Dilemma von Fluch und Segen der Fremdenströme beklagt. Einige Kommunen haben zumindest eine Lösung gefunden, den Tourismus mit dem Auto zu reglementieren. Die scharfe Waffe ist die konsequente Sperrung der Innenstadt für den PKW-Verkehr. Bei Missachtung erfolgen drastische Ordnungsgelder, die wegen der totalen Videoüberwachung der historischen Innenstädte zuverlässig eingezogen werden.
Doch auch als es den motorisierten Reiseverkehr noch nicht gab, erwies es sich nicht immer als bequem, fremde Orte zu besichtigen. Bereits Goethe hatte da seine einschlägigen Erfahrungen gemacht. In seiner „Italienischen Reise“ beschreibt er den Vorgang einer vorübergehenden Verhaftung, als er in Malcesine am Gardasee mit seinem Zeichenblock erwischt wurde, die örtliche Burg zu skizzieren. Man sah in ihm einen Spion. Heute erweckt das massenhafte Fotografieren mit dem Smartphone keine Aufmerksamkeit bei den Ordnungskräften mehr.
Geheimtipps werden Hotspots
Schöne Schnappschüsse locken viral via Internet noch viel mehr Tourist*innen aus aller Welt an. Glücklich ist, wer am berühmten Trevi-Brunnen in Rom, in dem Anita Eckberg baden gegangen ist, ein schnelles Foto von dem opulenten Brunnen machen kann – aus der dritten Reihe vor der Gruppe chinesischer Tourist*innen. Noch deprimierender ist ein Besuch in den Uffizien in Florenz. Wer nun schon das Glück hatte, einen zeitlich befristeten Eintritt zu erlangen, erfährt schnell, dass man nicht der einzige ist, der die weltweit berühmte Gemälde sehen will. Über die Köpfe und fremdländisches Geschnatter erwischt man noch einen flüchtigen Eindruck. Später kann man ja noch zuhause im Internet die Werke in aller Ruhe betrachten. Aber wozu dann noch reisen?
Authentisch oder Inszenierung
Manche meinen, es ist die einzigartige Atmosphäre und der authentische Kontakt. So sind die erlebnisreichen lokalen Wochenmärkte sehr beliebt bei Tourist*innen. Wer in der italienischen Sprache ausreichend geübt ist, wird erkennen müssen, dass immer mehr Händler nicht regionaler Herkunft sind; ebenso wenig die angebotenen Waren. Aber wenigstens gibt es noch diese Märkte, wenn auch immer weniger für die Einheimischen, weil das Geschäft mit den Tourist*innen einträglicher ist. So kann man zum Beispiel in Verona auf dem Kräutermarkt an jedem dritten Stand Glasschmuck erwerben, der wie echt aus Murano aussieht, aber nur „wie“.
Die Älteren kennen noch den Ohrwurm der 60-er Jahre: „Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer…“ (Conny Froboes). Hier drückte sich sehr deutlich die Sehnsucht nach der Ferne im Süden aus. Das deutsche Wirtschaftswunder erlaubte diesen Luxus, an den man sich sehr schnell gewöhnt hatte. Aber das so leicht daherkommende Lied beleuchtet auch die Schattenseiten:
„ … doch die beiden Italiener möchte gern zuhause sein.“ Da gab es also noch eine andere Dimension des „Fremdenverkehrs“.
Wer will, der kann seinen touristischen Ehrgeiz damit verteidigen, dass es doch eine willkommene Chance ist, wenn der Tourismus den Menschen in ihrem Heimatort Arbeit gibt. Allerdings hat die Orientierung auf die Gäste aus aller Welt das soziale Zusammenleben vielerorts verändert. Wohnen wird durch die Vermietung an Gäste für Einheimische unbezahlbar. Irreparable Schäden an der Natur durch den „Fremdenverkehr“ werden immer stärker zum Politikum. Auf der Insel Elba ist das Mitnehmen von Steinen am Strand strafbar, aus Furcht, die Sammelwut der Tourist*innen könnte die Insel ruinieren; klingt absurd, ist aber real. Der Tourismus beschädigt die Paradiese, die er allzu gerne bewirbt.
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