Auf Wildnissuche

1. Juli 2018 | Ökologie, Nachhaltigkeit | 0 Kommentare

Unsere Wälder und wie sie Klima und Artenvielfalt retten

Leuchtend grüne Laubblätter wiegen sich im Wind. Sonnenstrahlen fallen vereinzelt auf den weichen Waldboden. Vögel zwitschern. Es duftet nach Frühling, nach draußen sein, nach frischer Luft. Die Bonner genießen ihre Wälder. Egal ob zu Fuß oder auf dem Rad; es geht durch den Kottenforst, das Siebengebirge, über den Ennert oder den Venusberg. Naturbegeisterte lieben den Wald. Aber gibt es DEN Wald überhaupt, kann er noch mehr als zur Erholung dienen, wo sind seine Grenzen und geht es ihm eigentlich gut?

Tobias Landwehr

„Alle Theorie ist grau, und nur der Wald und die Erfahrung sind grün.“, sagte Friedrich Wilhelm Leopold Pfeil. „Die Wälder sind der Länder höchste Zierde.“, wird Gottlob König zitiert. Beide sind deutsche Forstwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit haben wir die Schönheit und den Nutzen unseres Waldes wiederentdeckt, nachdem wir mit ihm vorher zumeist rücksichtslos umgingen.
Heutzutage setzen wir unseren Wald multifunktional ein. Er ist ein vermarktbares Gut mit einigen Nutznießern. Die anfangs erwähnte Nacherholung ist dabei nur einer von vielen Aspekten im Spannungsfeld. Er sorgt beispielsweise auch für nachwachsende Rohstoffe in der Baubranche und dient als Speicher von Kohlenstoffdioxid. Nur der Wald selbst, die Natur, Tiere und Pflanzen scheinen bei all den anderen Zielen eine eher geringe Rolle zu spielen.

Wald in Zahlen

Passend zum Tag des Baumes am 24. April veröffentlichte die Naturwald Akademie ihren Waldzustandsbericht 2018 (1). Das Fazit ist alarmierend: „Fast 90 % der Waldfläche in Deutschland ist in einem naturschutzfachlich schlechten Zustand.“ Oder anders gesagt, dürfen Bäume nur auf 4,5 % der Waldfläche älter als 140 Jahre alt werden und davon sind nur 0,2 % geschützt.
Die Studie stellt die Daten der dritten Bundeswaldinventur (BWI-3) und der potentiellen natürlichen Vegetation (pnG) (2) gegenüber. Bei der BWI-3 erhebt das Thünen-Institut für das Bundeslandwirtschaftsministerium alle 10 Jahre punktuell, wie sich Wald, Baumarten und Holz entwickeln. Die pnG ist eine kontrovers diskutierte aber lange bestehende Analyse, die rekonstruiert, wie sich ein Gebiet ohne menschliche Eingriffe entwickelt hätte.

Nach der BWI-3 sind 32 % der Gesamtfläche Deutschlands als Wald eingestuft; nicht ganz 15 % davon sind „sehr naturnah“. Die höchste ökologische Stufe hier bedeutet allerdings nicht Urwald, sondern trotzdem noch Waldwirtschaft. Um herauszufinden, wie viel Urwald es in Deutschland gibt, müssen wir tiefer bohren:
2013 untersuchte ein Team der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt (NW-FVA) die Natürliche Waldentwicklung als Ziel der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt (NWE5) (3). Ergebnis der Bilanzierung war: 3 % der Waldfläche in Deutschland entwickeln sich natürlich. In der nunmehr weiterentwickelten und umbenannten Strategie der Bundesregierung Naturschutz-Offensive 2020 (4) stehen 10 % der gesamten Waldfläche als Ziel im Raum.

Witziger Weise brüstet sich der Bund damit, dieses Ziel bereits übererfüllt zu haben. Betrachten wir aber die Eigentumsverhältnisse, zeigt sich, dass das verschwindend gering ist. Nicht ganz die Hälfte des Waldes ist in privater Hand und knapp 30 % gehören den Ländern. Lediglich 3,5 % entfallen auf den Bund. In Fläche sind das etwas über 400.000 Hektar. Den Rest verwalten Körperschaften. Wer im Wald zu Hause ist Dr. Torsten Welle, wissenschaftlicher Leiter der Naturwald Akademie, hält die Ziele der Regierung für „armselig“ und fordert einen unverzüglichen Schutz bedrohter naturnaher Waldtypen sowie den Stopp der Abholzung von Bäumen, die älter sind als 140 Jahre. So zitierte ihn ein Redakteur der Süddeutschen Zeitung (5). Es seien eben grade die älteren Bäume, die als Lebensraum für Insekten, Vögel, Fledermäuse und Pilze dienen.

Prof. Dr. Jürgen Bauhus hingegen hält die Forderungen und die Einschätzungen der Naturwald Akademie für übertreiben. Im gleichen Artikel äußert der Professor für Waldbau an der Uni Freiburg und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für die Waldpolitik (WBW) seine Bedenken an der Aussagekraft der Ergebnisse dieser Studie. Im Bericht Waldstrategie 2020 im Spiegel der dritten Bundeswaldinventur schreibt der Beirat, eine Erfassung der Komplexität der Waldökonomie sei mit Großrauminventuren wie der BWI nicht zu erfassen. Trotzdem konstatieren sie, ein höheres Durchschnittsalter der Bäume, die Zunahme von Flächen ohne Holznutzung sowie die Zunahme an Totholz seien Indikatoren für die Steigerung der biologischen Vielfalt im Wald.

Entgegen der Ergebnisse der NW-FVA legt der Beirat bei seinem Bericht 5,6 % der Waldfläche ohne Holznutzung zugrunde. Dieser Unterschied kann sicher auf die einzelnen Methoden bei der Erfassung der Daten zurückgeführt werden. Eine einheitliche Definition von Urwald, naturbelassener Waldfläche oder Wildnis scheint es nicht zu geben.
Tatsächlich stellt sich hier dann die Fragen, wie die Bundesregierung ihre Ziele für mehr Biodiversität im Wald nachvollziehen will. Alle 10 Jahre eine Inventur durchzuführen, anhand deren Daten man die Entwicklung nur erahnen kann, scheint dürftig zu sein. Die steigen Anzahl typischer pflanzlicher und tierischer Bewohner könnte ein Indikator sein.

Märchenwald fürs Klima

Ein weiteres Ziel, das im Zusammenhang mit dem Schutz des Waldes immer wieder auftaucht, ist die Erhaltung der Kohlenstoffsenkefunktion. Ein sehr unschönes Wortmonster. Es beschreibt lediglich die Fähigkeit des Waldes CO2 zu speichern.

Das Öko-Institut hat zusammen mit der Naturwald Akademie für Greenpeace Deutschland das Projekt Waldvision gestartet. Drei Szenarien beschreiben dabei verschiedene Waldwirtschaften, die sich im Wesentlichen in der Intensität der Holznutzung unterscheiden. Demnach steigt die Fähigkeit des Waldes CO2 einzuspeichern erheblich, wenn die Holzwirtschaft in weiten Teilen ausgesetzt oder äußerst ökologisch betrieben wird.Erneut meldet der WBW in einer öffentlichen Stellungnahme (6) Bedenken an. Dort heißt es, Problem der Ergebnisse „sind die unrealistisch hohen Vorräte pro Hektar“, die dem ökologischen Szenario zugrunde liegen. Soll heißen, in einem begrenzten Raum wachsen Bäume in Konkurrenz zueinander. Abhängig von der Baumart benötigen einzelne Sorten unterschiedlich viel Platz um sich zu entwickeln.
Auch Dr. Marcus Lindner vom European Forrest Institute (EFI) spricht

auf der 11. Bonner Wissenschaftsnacht am 18. Mai in seinem Vortrag über den Kohlenstoffkreislauf zwischen Wald und Atmosphäre von einer Sättigung bei der Aufnahme von CO2. Mit den Waldflächen, die uns zur Verfügung stehen, seien wir bereits kurz vor dieser Sättigung. Lindner befürwortet daher einen Lösungsmix bestehend aus etwas mehr Fläche für die natürliche Entwicklung von Wald und eine intensivere Holznutzung.
Schenken wir dem WBW und dem EFI Glauben, so kann der Wald mehr CO2 aufnehmen, wenn Holz als Baurohstoff andere nicht nachwachsende Rohstoffe wie Beton ersetzt. Jedes Holzhaus dient somit als Kohlenstoffspeicher.

Wald gestalten

Trotz unterschiedlicher Ergebnisse sind sich alle hier Genannten einig: Unser Wald kann viel und wir müssen ihn schützen! Die Politik hat es dabei nicht leicht. Neben Umwelt- und Klimaschutz kommen Interessengruppen zu den Themen Waldeigentum, Holz- und Baubranche, Tourismus, Forstbetriebe, Länder, Gemeinden und Bildung dazu. Um nur einige zu nennen.
Allerdings wird deutlich, wir verlieren das Ziel aus den Augen: Wildnis, Urwald und natürliche Entwicklung als Wohnraum für Flora und Fauna. Mit der Klimaschutzdebatte scheint die Politik einen Weg gefunden zu haben, Umweltschützer*innen gegeneinander ausspielen zu können. Urwald ist schlecht für die Senkenfunktion. Im Zeichen des Klimaschutzes müssen wir die Holznutzung erhöhen.

Die Bundesregierung will die Biodiversität in Wäldern bis 2020 stark erhöhen; kann sie aber gar nicht adäquat messen. Innovative Studien dazu reden Berater kaputt und ruhen sich auf vermeintlichen Erfolgen aus, die sie alle 10 Jahre ermitteln.
Mir genügt das nicht. Ich hätte gerne Informationsoffensiven und Appelle an die privaten Waldbesitzer und die Länder. Sie sollten freiwillig Wildnis und natürliche Entwicklung zulassen. Ich hätte gerne mehr Forschungsmittel für Schutzgebiete und Wildnisparks.
Im Rhein-Sieg-Kreis beispielsweise überlässt das Forstrevier Rodder im Mierscheider Wald bei Eitorf bereits mehrere Gebiete sich selbst. Auf 93 Hektar Wildnisentwicklungsgebiet können Buchen über 140 Jahre alt werden und geeigneter Lebensraum für Insekten, Vögel, Fledermäuse und Pilze sein. Solche Projekte lassen hoffe, aber wir brauchen mehr davon. Auch neun Prozent des Kottenforsts sollen wieder Urwald werden. Auf 14 Wildnisgebieten von Bad Godesberg bis Heimerzheim sollen sich Eichen und Buchen ohne Forstarbeiten und Holzernte entwickeln können.

Um die Fragen eingangs aufzugreifen, unser Wald erholt sich, aber es geht ihm nicht gut. Um Wildnis zu finden, müssen wir lange suchen und wenn wir sie finden, dann ist sie zerstückelt, unzusammenhängend und in Gebiete, die sowieso nicht mehr wirklich wirtschaftlich sind. Was Urwald eigentlich bedeutet, haben wir vergessen. Analysen und Studien können die Komplexität dieser Ökosysteme nicht erfassen. Interessenlagen sind oft diametral. Dabei klingt die Lösung so einfach: Überlasst den Wald wieder der Natur!

Quellensammlung zum Nachlesen:

(1) https://naturwald-akademie.org/wp-content/uploads/2018/04/Alternativer-Waldzustandsbericht_Stand_25042018_1.pdf
(2) https://www.bfn.de/themen/artenschutz/erfassung-und-kartierung/vegetationskartierung/deutschland.html
(3) https://www.nw-fva.de/index.php?id=454
(4) Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 24. April 2018 Seite 14 „Ein Mythos verschwindet“ von Tim Schröder
(5) https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ministerium/Beiraete/Waldpolitik/StellungnahmeWBW-WaldvisionDeutschland.pdf?__blob=publicationFile

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