Wunderwelt Wildnis

Unsere Heimat birgt viel mehr Lebensräume, als wir auf den ersten Blick wahrnehmen: Rund um Bonn, in Deutschland und Mitteleuropa existieren zahlreiche unbekannte Arten aus der Welt der Pflanzen, Tiere und Pilze. Einige davon sind vom Aus­sterben bedroht – im Geflecht der wechselseitigen Beziehungen hängen sie aber aneinander. Geniale, kuriose und erstaunliche Lebensformen und deren Zusammenspiel stellen Vanessa Braun und Norman Glatzer auf ihrem erfolgreichen YouTube-Kanal „Buschfunkistan“ sowie in ihren Büchern mit Geist, Humor und Leidenschaft vor. Auf dem Earthbound Festival durfte ich ein Interview mit Norman führen und erhielt einen Einblick in ihr Schaffen, dessen Ziel es ist, unser Bewusstsein für den Landstrich zu stärken, den wir bewohnen.


Melanie Alessandra Moog


Lieber Norman, vor wenigen Monaten hast Du gemeinsam mit Deiner Frau Vanessa Braun ein neues Buch beim Ullstein Verlag herausge­bracht – worum geht es darin?

Das Buch heißt „Fast zu wild, um wahr zu sein“. Unsere versteckten Biotope und wie man sie schützen kann“. Es ist vom Grundsatz her nach den natürlichen Lebensräumen aufgeteilt, die man hier in Mitteleuropa finden kann. Das heißt, von den Dünen an der Küste über Laub- und Nadel­wälder bis hin zu Hoch- und Niedermooren und weiteren ist eine große Vielfalt vertreten. In jedem Kapitel lernen wir spezifische Arten kennen, die diesen Lebensraum bewohnen. Der Fokus liegt vor allem darauf, wie diese Arten miteinander interagieren.

Also geht es Euch um die Interdependenz – und auch darum, ein Bewusstsein für dieses sensible, schützenswerte Gleichgewicht zu schaffen?

Vanessa und Norman beim Sammeln von Pfifferlingen © Vanessa Braun

Genau. In unserem ersten Buch „Mittendrin im Draußen“ legen wir sozusagen das Fundament für dieses Interesse. Da geht es darum, einfach rauszugehen, sich auf Entdeckungsreise zu be­geben und zu schauen, was es im Reich der Pilze und Pflanzen überhaupt gibt, vor allem, um sie zu nutzen. Denn das ist ja für viele, die gerade erst anfangen, die Natur besser kennenzulernen, der klassische Einstieg: Was kann ich sammeln und als Nahrungs- oder Heilmittel verwenden? Und im Anschluss fängt man dann vielleicht an, sich zu fragen, wie alles zusammenhängt und was man tun kann, um den leckeren Pilzen und Pflanzen zu helfen, damit sie weiterhin gut wachsen – im Zusammenspiel mit den ganzen anderen Vertretern des Ökosystems, die teils vom Aussterben bedroht sind.

Was genau hat Euch bewogen, das neue Buch zu schreiben?

Artenkenntnis ist in Zeiten einer Biodiversitäts­krise extrem wichtig. Wir möchten Lust auf die Artenvielfalt Mitteleuropas machen und zeigen, wie komplex alles im Großen wie im Kleinen zusammenhängt. Für viele ist es mittlerweile leichter geworden, Markenlogos zu benennen, als Lebewesen aus der Natur, die uns umgibt und in der wir selbst ein Teil sind. Wir hoffen, mit dem Buch einen Beitrag leisten zu können, dass sich das wieder ändert.

Welche symbiotische Beziehung aus der Na­tur hat Euch besonders beeindruckt?

Besonders spannend ist der Sägehörnige Werft­käfer. Er hat extra Taschen, in denen er Pilzsporen transportieren kann. Er legt seine Eier auf Holz. Auf die Eier werden dann die Sporen geschmiert. Schlüpfen die Larven, suhlen sie sich in den Spo­ren. Im Anschluss fressen sie sich in das Holz und verbreiten in den Gängen die Sporen. Dort wächst daraufhin der Pilz Endomyces hylecoeti, der wie­derum als Nahrung dient.

Auf eurem erfolgreichen YouTube-Kanal „Buschfunkistan“ bietet Ihr seit über fünf Jahren all denjenigen einen tollen Einstieg, die sich mehr mit unseren heimischen wilden Arten befassen möchten. Wie kamt ihr auf den Namen und wie ist Eure Arbeitsteilung?

Mit „Buschfunkistan“ funken wir sozusagen direkt aus der wilden Natur in die Welt – YouTube ist dafür eine super Plattform und wir haben mitt­lerweile 190.000 Abonnenten, worüber wir uns sehr freuen. Vanessa steht meist hinter der Kamera, macht den Videoschnitt, die Gestaltung und Illust­rationen. Ich recherchiere, schreibe das Skript und moderiere die Videos. Gemeinsam stimmen wir uns im Gespräch ab und ergänzen uns mit unserem Naturwissen. Sie ist geprüfte Heilpraktikerin und ich habe einige Semester Ernährungswissenschaf­ten studiert, aber in unserem Bereich sind wir Autodidakten und arbeiten interdisziplinär.

Wie seid Ihr aufgewachsen? Wurde Euch die Naturverbundenheit in die Wiege gelegt?

Wir sind beide nicht komplett naturfern aufge­wachsen: Vanessa kommt aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald und ich wuchs am Stadtrand von Berlin auf, wobei es in meiner Kindheit dort noch viele Brach- und Ruderalflächen gab. Unser Interesse an der Natur kam vor vielen Jahren durch und wir verspürten den Wunsch, unser angeeigne­tes Wissen zu teilen. So können möglichst viele Menschen einen Zugang zur Natur finden, auch diejenigen, die nicht am idyllischen Naturschutz­gebiet wohnen.

Mittlerweile lebt ihr äußerst naturnah – wel­chen Grad an Selbstversorgung erreicht ihr mit Selbstgesammeltem aus der Natur?

Das ist von der Jahreszeit abhängig. Momentan gibt es sehr viele Pfifferlinge bei uns – da landen sie fast täglich auf dem Teller. Natürlich muss man auch bedenken, dass Pilze und Wildpflanzen wenig Kalorien liefern.

Die Nährstoffdichte macht sie interessant, vor allem im Vergleich zu Kulturgemüse aus dem Supermarkt

Genau. Das ist eines der besten Argumente, um Menschen für wilde Nahrung zu öffnen. Man kann bei uns über Selbstversorgung viel lernen, egal, ob man sich bereits lange dafür begeistert oder gerade erst einsteigt. Dabei sollten wir stets achtsam mit der Natur umgehen. Das möchte auch unser neues Buch kommunizieren: Ein Verständnis dafür, was es hier bei uns eigentlich für eine große Vielfalt gibt – oder geben könnte. Wir entdecken, welche Lebensräume und Wunderwerke aus Flora, Fauna und Funga hier eigentlich zu Hause sind, wenn sie eine geeignete Lebensgrundlage vorfinden. Oft gibt es hier langweilige Äcker, wo nur eine Art wächst oder überdüngte Fettwiesen, auf denen nur Löwenzahn sprießt.

Die wahre Vielfalt, die es hier gibt, ist teilweise gar nicht mehr so leicht zu finden. Deswegen ist es gut, wenn mehr Menschen wissen, welches Potenzial in unserer Natur steckt und dass wir alle etwas dafür tun.

Im eigenen Garten kann ich einen Mager­standort anlegen oder ein Feuchtbiotop.

Vanessa Braun und Norman Glatzer © UIlstein Buchverlage – Allegria; ISBN 13-9783793424529

Ja, oder einfach erst spät im Jahr mähen, das ist auch gut. Man muss ja nicht den ganzen Garten zuwuchern lassen und kann eine Sitzecke frei­halten, dafür aber andere Ecken wilder wachsen lassen. Dabei tut man etwas für die Umwelt und hat gleichzeitig weniger Arbeit.

Welche Besonderheit weisen denn menschen­geformte Räume auf?

Menschengeformte Biotope können extrem artenreich sein. Oft übernehmen wir Menschen (auch in Kooperation mit domestizierten Tieren) den Job, den einst die Megaherbivoren gemacht haben, die ja weitestgehend in Europa ausgestor­ben sind. Insbesondere magere Offenlandschaften mit ihrem gigantischen Artenreichtum würde es ohne unser Zutun hier in Mitteleuropa nur viel seltener geben. Ein Beispiel sind verlassene Tage­bauten oder ehemalige Truppenübungsplätze. An solchen durch Menschen geprägten Orten kann die Biodiversität richtig aufleben.

Städte sind ebenfalls spannende Lebensräume. Manche Arten finden hier mittlerweile bessere Bedingungen vor als auf dem Land, wenn dort nur noch eine Agrarwüste existiert.

Aber auch für allerlei Neophyten sind Städte Orte, an denen sie versuchen, Fuß zu fassen oder Nischen zu finden.

Und wie ist es mit Ruderalfächen?

Das sind Areale, die sowohl durch menschlichen als auch natürlichen Einfluss, wie Hochwasser und Erdrutsch, entstehen. Aber: „Die allermeisten Ruderalflächen der Gegenwart sind menschenge­macht […]. Seien das nun ehemalige Truppen­übungsplätze, stillgelegter Bergbau oder einfach nur ein brachliegender Acker. All diese Orte haben eine intensive Nutzung hinter sich, überall ist nur noch nackter Boden. Da ist es nur eine Frage weniger Tage, bis die Natur nach der Stilllegung beginnt, diese Flächen neu zu besiedeln,“ wie wir es in unserem Buch erklären (Braun/ Glatzer, Fast zu wild, um wahr zu sein (2024), S. 253).

Die ersten Pionierpflanzen sind meist Heilkräu­ter aus der Familie der Korbblütler. Letztlich strebt ein Ökosystem in unseren Breitengraden, so auch die Ruderalfläche, im Idealfall die Ausbildung waldähnlicher Strukturen an. Dieser Prozess wird Sukzession genannt.

Der Schwarze Holunder und andere Sträucher sind dort nach ein paar Jahren bereits zu finden: Der Holunder liefert Futter und fruchtbaren Mulch.

Zudem siedelt sich gern die Zitterpappel an, ein wahrer Biodiversitätsgarant, besonders für 86 hei­mische Schmetterlingsarten. Dieser unterschätzte Baum ist zudem vergleichsweise schnellwüchsig, brand- und klimaresilient. Pilze wie die Espenrot­kappe stehen mit ihm in Symbiose, während Bie­nen das Harz für ihre wertvolle Propolis benötigen.

Das seltene Schwarze Bilsenkraut liebt ebenfalls Schotterplätze – seine Samen sind unglaubliche 600 Jahre keimfähig, bis sie geeignete Wachstums­bedingungen vorfinden. „Ruderalflächen sind wie Theaterbühnen. Die Natur führt uns hier immer wieder vor, was für unglaubliche Kräfte sie hat“ – das ist eins der schönsten Zitate aus unserem Buch.

Ist die Biodiversität in unserer modernen Welt also noch zu retten?

Angesichts der Tatsache, dass das Thema ge­fühlt immer noch ein Schattendasein führt und oft zu wenig zu langsam passiert, kann man durchaus pessimistisch werden. Aber es gibt auch Hoffnung, wie zum Beispiel durch die Wiedervernässung von Mooren. Oder Solarparks, die zugleich artenreiche Magerstandorte werden.

Insgesamt ist anzunehmen, dass sich unsere Na­tur in den nächsten Jahrzehnten extrem verändern wird. In welche Richtung, wird sich zeigen – wir Menschen haben da viel in der Hand. Natürlich sind auch die Selbstheilungskräfte der Natur nicht zu unterschätzen, schließlich hat der Planet schon so einiges überstanden. Ob aber mit oder ohne Menschheit, das ist die Frage.

Danke für das Gespräch!

 


„Fast zu wild, um wahr zu sein. Unsere versteckten Biotope und wie man sie schützen kann“.
Ullstein, Berlin 2024
YouTube @Buschfunkistan
Interview-Link: https://youtu.be/zPLjFYcdp_E


Earthbound-Logo © Fabian Regnery, Wildschytz UG


Melanie Alessandra Moog


Auf dem Earthbound Festival wird für vier Tage die Natur zu unserem Zuhause:
Das gemeinsame Zeltlager am Waldrand bietet Foodtrucks mit gesunden Leckereien, einen Slackline-Park, eine Holzsauna und eine Vortragsbühne.

Norman von Buschfunkistan hielt beim diesjährigen Festival im Juni 2024 einen fas­zinierenden Vortrag über „Naturbeziehun­gen jenseits von Gut und Böse“, in dem er erstaunliche Fakten und Zusammenhänge aus der heimischen Wildnis darbot.

Am knisternden Lagerfeuer lässt sich das Leben genießen und so mancher neue Kontakt unter Gleichgesinnten knüpfen, während mit tanzbarer Live-Musik und DJ-Darbietungen Feierlaune aufkommt. Tagsüber locken Wildkräuterwanderungen und Workshops, vom Körbeflechten über Yogasessions bis hin zum Färben mit Natur­materialien und vieles mehr.

Das nächste Earthbound Festival findet vom 26. bis 29.06.2025 im Schwarzwald statt – eine tolle Möglichkeit, raus aus dem Alltag und rein ins gemeinsame Naturerlebnis zu kommen.

Veranstalter ist Wildschytz.

Vergünstigte Early Bird Tickets sind bereits verfügbar.

https://earthbound-festival.com/

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Es folgt eine Anzeige unseres Unterstützers ‘Natürlich RAD

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