Ein Projekt der Bertolt-Brecht-Gesamtschule
Mutig in die Zeitenwende
Autor*innen des Projektteams
Jahreswechsel sind gute Anlässe, über die Zukunft nachzudenken: Wie will ich leben? Wie können wir leben? Fragen, die seit einiger Zeit die Installation „Zeitenwende“ im Kottenforst in den Fokus rückt. Bereits im Sommer fand in dieser Szenerie das Interview mit dem Bonner Philosophen Markus Gabriel statt. Heutiger Gesprächspartner: Klaus von Stosch, Professor für systematische Theologie und Gründer des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.
Perspektivwechsel: Klaus von Stosch öffnet den Blick auf die „Zeitenwende“ durch die Religionen verbindende Skulptur „Engel der Kulturen“. Blickt man durch den Engel, wird die „Zeitenwende“ am anderen Ende der Lichtung sichtbar. Ein Engel, der uns Entscheidendes zeigt und Mut macht, die entscheidenden Schritte zu gehen?
Wie groß sind Ihrer Meinung nach die Chancen für eine „Zeitenwende“?
Verstärkt durch die Corona-Krise ist uns allen deutlich geworden, dass sich etwas ändern muss. Die Fridays-for-Future Bewegung hat das sehr eindrucksvoll vor Augen geführt, und ich nehme wahr, dass immer mehr Politiker und Politikerinnen, zumindest in ihrer Rhetorik, erkennen lassen, dass sie etwas verändern wollen. Ob das reicht, ist sehr die Frage, aber ich muss schon zugeben, dass es Punkte gibt, die mir Mut machen. Also wenn ich jetzt vergleiche, als ich in Ihrem Alter war und schon so ein bisschen die Zeitenwende vor Augen hatte und mir dann vorgenommen habe, nie mehr zu fliegen, nie mehr Auto zu fahren, da war ich ziemlich einsam und ein ziemlicher Freak. Also ich weiß noch, als ich angefangen habe Vegetarier zu sein und dann später über das vegan sein nachzudenken, vor dreißig Jahren, war das noch völlig neu als Thema. Und heute ist man schon ein bisschen spießig, wenn man Fleisch isst. Also das hat sich schon verändert. Das macht mir Mut, aber ob das reicht? Also wenn Sie sich die wissenschaftlichen Zahlen betrachten, dann sind wir halt spät dran. Wir sehen es ja an der Klimaerwärmung, dass es für vieles schon zu spät zu sein scheint. Aber ich habe immer noch Hoffnung, dass wir das Ruder rumreißen können, und wir haben immerhin bei umweltpolitischen Themen wie dem Ozonloch im letzten Moment noch die Kurve gekriegt. Vielleicht schaffen wir es auch diesmal.
Wie schätzen Sie bezogen auf die „Zeitenwende“ die jüngsten Enzykliken von Papst Franziskus ein?
Ja, ich bin froh, dass der Papst erkannt hat, in welche Richtung sich die Kirche entwickeln muss, dass sie eben nicht nur Anwältin der Armen ist, sondern auch Anwältin der Umwelt, der Schöpfung. Da sind die jüngsten Enzykliken wie „Laudato si“ oder „Fratelli tutti“ ganz klar. Integration von Flüchtlingen oder die wachsende Polarisierung in der Gesellschaft, die wir jetzt gerade in den USA bei den Wahlen noch einmal gesehen haben, also diese Gräben, die da sind, und die durchaus auch in unsere Gesellschaft kommen können, da schärft uns jetzt Franziskus ein, dass die Aufgabe der Kirche ist, hier zu zeigen, dass wir über Gräben hinweg eine Verbindung schaffen können – katholisch heißt ja allumfassend – und dass es darum geht, Polarisierung zu überwinden, nicht mehr in der eigenen Blase zu leben, nur Gleichgesinnte zu treffen. Ich glaube, Kirche soll uns helfen, Realität wahrzunehmen, Wirklichkeit wahrzunehmen, in Solidarität mit allen anderen, anderen Religionen und säkularen Menschen.
Ist eine wertschätzende und bewahrende Haltung im theologischen Denken an sich angelegt?
Nein, das ganz sicher nicht, weil die Theologie natürlich auch Teil des Problems ist. Wenn wir jetzt mal angucken, was uns diesen Kahlschlag hier um uns eingebrockt hat, dann hat das Christentum seinen Anteil daran und auch die Theologie. Allerdings nicht mehr als Aufklärung und Moderne und andere Traditionen. Der Dualismus, der den Geist über den Körper setzt, der Dualismus, der den Mensch aus der Schöpfung heraushebt und ihr gegenübersetzt, das sind alles Dinge, die in den heiligen Schriften angelegt sind. Man kann sie nur eben anders lesen, das ist ein theologisches Ringen, ein Ringen um die richtige Deutung des Textes. Deswegen habe ich ein wenig die Hoffnung und den Eindruck, dass es einen Erkenntnisfortschritt gibt, z.B. würde heute niemand mehr ernsthaft die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Frage stellen und es ist auch klar, dass Krone der Schöpfung nicht Herrschaft bedeutet, sondern Sorge für die Schöpfung. Aber dennoch gibt es noch genug Dinge, wo wir lernen müssen, und insofern ist das theologische Denken oder Religion nicht an sich gut, sondern Theologie soll helfen, Religion so zu gestalten, dass sie gut ist und der Welt hilft.
In der Annahme, dass sich „Zeitenwende“ auf Politik bezieht: Muss sich die Religion neuen Herausforderungen anpassen?
Ja klar, Religion hat jetzt die Aufgabe, Menschen zu ermutigen die Welt zu verändern. Religion darf sich nicht mehr mit sich selbst beschäftigen. Sie muss die Kraft nutzen, die aus Spiritualität kommen kann, um diese Welt so zu verändern, dass alle sich wohl fühlen können. Dass es eben auch denen gut geht, die im Moment unter Ungerechtigkeit leiden und die verhungern. Ich meine, davon gibt es ja deutlich mehr Menschen als Menschen, die sich ihr Leben einigermaßen vernünftig einrichten können. Alle monotheistischen Religionen prägen die prophetische Forderung nach Gerechtigkeit, sie dürfen sich nicht damit abfinden, zu einem Wellness-Programm im Privaten zurückgekreuzt zu werden. Insofern braucht es Religion als emanzipatorische Kraft, um zusammen mit säkularen Akteuren Politik zu verändern.
Zum Abschluss, welche Erfahrungen machen Sie bezogen auf die „Zeitenwende“ im interdisziplinären Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaft?
Ich erlebe es als ermutigend, dass wir im Zentrum an solchen Themen über Religionsgrenzen hinweg arbeiten können. Also wir sind wirklich nicht mehr in einer Zeit, in der es sinnvoll ist zu fragen, welche Religion die besten Antworten hat. Angesichts von ökologischer Krise, Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz müssen wir heute gemeinsam Lösungen entwickeln. Genau das versuchen wir in Paderborn.
Ja, es ist der „Engel der Kulturen“, der uns diese Perspektive eröffnet. Zum ungekürzten Interview.
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