An den Grenzen der Wissenschaft
Aus den Schriften des Aristoteles im dritten Jahrhundert vor Christus hervorgegangen, sind der Begriff der Metaphysik und die Beschäftigung mit Fragen jenseits der sinnlich erkennbaren Welt von jeher auf Skepsis gestoßen. Gibt es dennoch interessante Spuren, die Wegweiser für heutige Fragestellungen liefern? Ein Versuch über das Selber-Denken.
Metaphysik kommt aus dem Griechischen und heißt soviel wie „nach der Physik“. In den ursprünglichen aristotelischen Schriften war dieser Titel erst einmal nur als eine Art didaktische Reihenfolge im Lehrplan der Schüler gedacht. Man verstand darunter Fragen nach den letzten, nicht ohne weiteres erfahr- oder erkennbaren Zusammenhängen des Seins. Aristoteles bejahte auch die Existenz eines ursprünglichen Impulsgebers für das Weltgeschehen (der unbewegliche Beweger). Dieses als Gott bezeichnete Wesen bleibt aber im weiteren Verlauf der kosmologischen Entwicklung eher ein Unbeteiligter und liefert keine Blaupause für theologische Dogmen wie die Religionen, die spätere Jahrhunderte prägten.
Wachsendes Ich-Bewusstsein
Diese lange herrschende „selbstgewählte Unmündigkeit“ ging Philosoph*innen wie Immanuel Kant gegen den aufgeklärten Strich. Zuvor wurde jedoch der Boden durch einen sich langsam entwickelnden Perspektivwechsel bereitet: statt Fragen an den Kosmos zu formulieren und diesem wortkargen Gesellen eine allgemeingültige, weltbildhafte Entgegnung abzuverlangen, fand eine Besinnung der Denker*innen auf das eigene autonome Ich statt. Vorsichtig bereits bei Augustinus in seinen „Bekenntnissen“ eingeträufelt, wurde die Selbstbefragung im 16. Jahrhundert zum bestimmenden Prinzip in den Essais von Michel de Montaigne. „Que sais-je?“ steht in einen Deckenbalken seines Studierzimmers eingebrannt. „Was kann ich wissen?“ ist dabei eine echte Frage, quasi sein Denk- und Forschungsprogramm. Das Ich, die eigene geistige Tätigkeit, sei eine sehr fragile Basis, aber die einzig mögliche und damit letzte Erkenntnisinstanz.
Etwa zur gleichen Zeit baut auch René Descartes sein Denkgebäude auf die Wahrnehmung, Sortierung und Beurteilung von Gedanken und Ideen in der eigenen geistigen Welt auf: „Ich denke, also bin ich.“ Methodisch eher ein Zweifler, versucht er im Universum seines Verstandes Objekte zu finden, die ähnlich klar und eindeutig ableitbar sind wie die Regeln der Mathematik.
Einsicht in die Grenzen
In seinen „Meditationen über die erste Philosophie“ gesteht Descartes bei der Suche nach Wahrheit jedoch auch Irrtümer ein, und zwar „offenbar nur daraus, dass mein Wille (Anm.: zu urteilen) sich weiter erstreckt als mein Verstand und dass ich ihn nicht auf dessen Reichweite einschränke.“ Durch Übung und wiederholtes Meditieren könne man sich jedoch erziehen, weniger zu irren.
Während Descartes persönliche Gewissheiten nicht ausschloss, stellte Immanuel Kant circa 100 Jahre später die Frage, ob der Mensch der tatsächlichen Natur der Dinge überhaupt auf die Spur kommen könne. Zwar sei sein Verstand in der Lage, Formen der Wahrnehmung wie Raum und Zeit sowie Denkkategorien wie zum Beispiel die Kausalität zur Verarbeitung seiner sinnlichen Erfahrungen abstrakt zu modellieren. Aber seine „buchstäblichen“ (sprachlichen) Möglichkeiten reichten nicht aus, letzte, eigentliche Dinge (das Ding an sich) wie zum Beispiel die Ursache der Entstehung der Welt zu erkennen. Eine kritische Metaphysik könne sich daher allenfalls mit den Grenzen der Verstandesmöglichkeiten auseinandersetzen.
Vom Sein des Seienden
Ein großer zeitlicher Sprung ins 20. Jahrhundert führt zu den Anfängen der Existenzphilosophie. Sich heute noch mit dem Denken des Antisemiten Martin Heideggers zu befassen, bedarf starker Gründe. Die sehe ich in seinem interdisziplinären Erkenntnisansatz: der Verknüpfung der naturwissenschaftlichen Einzellehren (Lehren vom Seienden) hin zu einer übergreifenden Sicht, dem „Sein des Seienden“; weiter in seinen assoziierenden, nicht ausgetretenen Sprachpfaden und in der starken Fokussierung auf den durch existenzielle Fragen verängstigten Menschen, dessen Schwäche er in Erkenntnischance ummünzt.
Das einschüchternde „Nichts“ arbeitet er als Prozess heraus, in dem die Welt für den Menschen ihre Bedeutsamkeit verliert. Genau da liege jedoch der Reiz, da erst in der Wahrnehmung des Entschwindens des Seienden mögliche Konturen des Seins erkennbar werden. Das Nichts als Vorposten des Seins im Seienden, im Verlust blitzt eine präzisere Idee des Entgleitenden auf. Nach Heidegger entsteht daraus kein gerichtet ablaufender Prozess, sondern ein Verbergen und Entbergen existenzieller Zusammenhänge in wiederkehrenden Zyklen.
Kosmische Parallele
Wie eine kosmische Parallele zum Denken Heideggers ließe sich die physikalische Theorie der Schwarzen Löcher im All interpretieren. Diese Objekte des Universums verfügen über eine enorme Masse und Anziehungskraft. Sie verschlingen die Materie der umgebenden Sterne und nicht einmal Licht kann sich ihrer Schwerkraft entziehen. Man geht heute davon aus, dass sich im Zentrum vieler Galaxien ein solcher Schlund befindet, der durch Einverleibung von Materie regelnd auf die Ausdehnung des jeweiligen Sternensystems einwirkt. Und weiter, dass Zahl und Mächtigkeit solcher Schwarzen Löcher im Raum zunehmen.
Szenarien sind denkbar, bei denen der Kosmos bei immer größerer Dichte und Häufigkeit von Kollisionen der Schwarzen Löcher komplett kollabiert – wäre da nicht ein gegenläufiges Element: Teile der aufgefutterten Sterne gehen, wie bei einem Kindermund, quasi daneben und werden ins All zurückgeschleudert, und zwar um so stärker, je mehr der Vielfraß in sich heingeschlungen und somit inneren Druck aufgebaut hat. So ließe sich auch ein Universum erklären, dass nicht nur aus einem einzigen Urknall hervorgeht, sondern das – analog zum Verbergen und Entbergen des Seins – Ausdehnung und Schrumpfen in wiederkehrenden Phasen durchläuft. Die Metaphysik ein ahnender Pate für die Naturwissenschaften? Damit hätte sie wieder die Rolle, die ihr Aristoteles zugewiesen hat, nämlich nach, oder besser neben der Physik.
Dieser Artikel erschien in der BUZ-Ausgabe Mai/Juni 2020.
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