Mit Emilie auf Stevensons Spuren
Sind Sie schon mal auf einer „Reise mit dem Esel durch die Cevennen“ gewesen? Robert Louis Stevenson, der Autor der „Schatzinsel“ und von „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, wurde mit diesem Reisetagebuch über seine Eselreise 1878 zum Pionier der Wanderliteratur.
Sie lesen einen Artikel aus der BUZ 2016
Esther Reinecke und Andreas Lison
Inspiriert von dieser Lektüre ihres Vaters wagte sich vor 29 Jahren die 12-jährige Esther Reinecke mit ihrer Familie in diese südfranzösische Region auf eine Wanderung mit einem Esel, auf den Spuren des Schriftstellers.
„Ich reise nicht, um irgendwohin zu fahren, sondern um des Reisens willen. Die große Sache ist, sich zu bewegen“ (R. L. Stevenson).
Die Cevennen, UNESCO-Weltkulturerbe seit 2011, gehören zu den am dünnsten besiedelten Regionen Europas mit vielfältigster geschützter Natur (Gebirge, Schluchten, Wälder, Gewässer aller Art), magischen Orten (z. B. Jakobsweg-Pilgerkirche in Thines) und urigen kleinen Dörfern, teils menschenleer. Damals, ohne Internet und Reisebüro-Know-How, improvisierten wir unsere Wanderung mehr als dass wir sie planten. Der Wanderweg verlief meist über steinige alte Handels-, Pilger- und Weidewege.
Wie bei Stevenson war auch unsere von einem Bauern geliehene und aus wunderschönen Augen blickende Eselin Emilie sowohl einfühlsam als auch mit eigenem Wandertempo ausgestattet und zuweilen so bockig, dass wir sie am Berg zum Weitergehen „überreden“ mussten.
Das gelang uns schließlich, indem wir vor ihr Esskastanien ausstreuten. Zwei Waldarbeiter riefen uns einmal lachend zu: „Bei ihrer Exkursion ist der Esel der patron!“ Beim Packen blähte sie oft den Bauch auf und ließ nach einiger Zeit die Luft ab, so dass die Riemen rutschten und das Gepäck zu Boden purzelte. Daher trugen wir bald unser Gepäck selbst und ließen sie unbeladen mitwandern.
Damals waren wir buchstäblich allein unterwegs. Wir trafen in einer Woche nur eine rüstige alte Ziegenhirtin, Wanderschäfer mit Herden und einen Wilderer, der mit einem Gewehr in der Hand uns bedrohlich anblickte. Die Unterkünfte, gites, waren einfache Herbergen eines Bauern bzw. „patron“. Das Mobiliar bestand manchmal aus Stühlen, die nur drei Beine hatten. Mit etwas Glück gab es elektrischen Strom. Winzige Kammern mit ausgedienten, knarzenden Militär-Etagenbetten dienten als Schlafplatz. Die reichhaltigen Abendessen fanden immer zusammen mit den patrons statt. Als wir im schönen Bergdorf Thines im (zu einer gite umgebauten) Beinhaus der Wallfahrtskirche übernachteten, schrie Emilie die halbe Nacht laut und jämmerlich nach uns. Das Echo der Berge verstärkte ihr Klagen derart, dass niemand Schlaf fand. Die Morgenwäsche der Verschlafenen fand am Wasserhahn des kleinen Friedhofs nebenan statt.
„Beurteile einen Tag nicht danach, was du geerntet, sondern danach, was du gesät hast.“ (R. L. Stevenson)
Typisch für die Gegend sind schnell wechselnde Wetterlagen, was uns eine unvergessliche Begegnung bescherte. Von einem heftigen Gewitter klatschnass kamen wir in Brahic an und fragten beim Bürgermeister nach dem Weg, da unsere Karten sich durch die Nässe aufgelöst hatten. Nach einiger Zeit – unsere tropfende Kleidung hatte mittlerweile eine große Pfütze auf dem Zimmerparkett erzeugt – legte er seine zunächst schroffe Ablehnung gegenüber den Fremden ab, verhalf uns zu einer Unterkunft und sagte: „Deutschland Freunde für immer“. Es war sein erstes Gespräch seit dem 2. Weltkrieg mit Deutschen, die damals auch in den Cevennen viele Kriegsverbrechen begangen hatten und der Bevölkerung noch lebhaft in Erinnerung waren.
Es lohnt sich auch heute, diesen wunderschönen, abwechslungs- und erlebnisreichen Wanderweg zu gehen. Angebote für Eselwanderungen haben stark zugekommen, Anzahl und Qualität der Unterkünfte haben sich verbessert, Wege sind besser ausgeschildert. Unvergessen bleibt uns das Licht, das sich zunehmend änderte, sobald man die südlichen Bergregionen nahe des Mittelmeeres erreichte. Und am Ende wird man sicher auch den Esel ganz ins Herz geschlossen haben – genau wie wir und einst Stevenson.
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