PC-Maus klicken statt Labor-Maus quälen
Es wird seit Jahrzehnten weltweit und ununterbrochen an Medikamenten zur Behandlung von Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer gearbeitet. Hinter verschlossenen Labortüren von Universitäten und Pharmaunternehmen werden dafür Versuche an lebenden Tieren unternommen. Doch rechtfertigt die Suche nach medizinischen Fortschritten zum Wohle des Menschen den „Verbrauch“ von Tier„modellen“? Gibt es im 21. Jahrhundert nicht andere Methoden, die das Leiden von Lebewesen ausschließen und zudem schneller zum Erfolg führen? Die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Corona zeigt beispielhaft, wie es besser gehen kann.
Esther und Andreas Reinecke-Lison
Tierversuche (Vivisektion) gab es schon in der Antike, doch seit dem 19. Jahrhundert werden sie systematisch und massenhaft am lebenden Wesen angewandt. Das abendländische Denken beförderte diese Entwicklung. Aristoteles und Thomas von Aquin sahen eine natürliche Ordnung in der Schöpfung mit dem „geistigen Wesen“ Mensch an der Spitze. Tiere seien „zum Nutzen des Menschen hin geordnet“. Laut René Descartes sind Tiere reflexgeleitete „Sachen“ ohne Verstand, Gefühle und Schmerzempfinden. Diese „Sachen“ nutzte Claude Bernard ausgiebig und unbarmherzig für Versuche, um für die Medizin analytisch nachvollziehbare und reproduzierbare Erkenntnisse zu gewinnen. Seitdem gelten Tierversuche als sogenannter Goldstandard in der Medizin.
Recht der Menschen
Gesetzlich vorgeschrieben sind Tierversuche für Tests von Medikamenten (dazu zählt Botox), Chemikalien, Lebensmitteln und Kosmetika. Ansonsten werden sie in Forschung und Lehre und beim Militär angewandt. 2002 erfolgte die Aufnahme des Tierschutzes in das deutsche Grundgesetz. Eine EU-Richtlinie zum Schutz der Versuchstiere von 2010 wurde in Deutschland erst 2013 übernommen. Tiere werden nun als „Mitgeschöpfe“ anerkannt. Das Zufügen von Schmerzen, Leiden oder Schäden in Tierversuchen ist auf ein „unerlässliches Maß“ zu beschränken. Eine Behörde genehmigt sie, wenn ein „vernünftiger Grund“ vorliegt. Erst seit 2021, nach einem EU-Vertragsverletzungsverfahren, werden in Deutschland Tierversuche für Arzneimittel und in der auf zweckfreier Neugier basierenden Grundlagenforschung der zweckfreien Neugierforschung „detailliert“ geprüft. Wenn im Antrag in Aussicht gestellt wird, dass die Ergebnisse Menschen helfen können, kann das mangels fachkundigen Beamt*innen nicht überprüft werden. Eine Kommission berät sie, besteht aber meist aus Wissenschaftler*innen, die Tierversuchsbefürworter sind. So verwundert es nicht, dass maximal ein Prozent aller Versuche abgelehnt werden.
Tierversuch als System
Mit Tierversuchen werden Milliarden Euro pro Jahr umgesetzt. In diesem System gibt es einige Gewinner. Wissenschaftler*innen erlangen durch Veröffentlichungen ihrer Forschungen Ansehen und Forschungsgelder. Sie veröffentlichen nur Ergebnisse gelungener Tierexperimente. Pharmakonzerne nutzen Tierversuche zur rechtlichen Absicherung vor der Marktzulassung von Medikamenten, vor allem im Ausland. Züchtungsfirmen bieten Tiere als „Modell“ per Katalog an, genmanipuliert, mit Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson versehen, die beim Tier nicht vorkommen. Das „Modell“ kann dann bis zu 80.000 Euro kosten. Diese Tierversuchslobby ist sehr daran interessiert, alles so zu belassen, wie es ist. Einer bleibt dabei immer der Verlierer: das Versuchstier. 2021 wurden 2,5 Millionen „Modelle“ verwendet, vor allem Mäuse. Genauso viele Tiere wurden als „Überschuss“ direkt getötet, weil sie etwa nicht das passende Geschlecht für das jeweilige Experiment hatten. Die Tiere werden meist ohne Narkose quälenden Operationen und Prozeduren ausgesetzt, erhalten Gifte, bevor sie „verbraucht“, also gestorben sind. „Tierversuche sind die größte und gemeinste Kulturschande der Gegenwart. Kein Volk, das sie duldet, hat ein Recht darauf, sich ein Kulturvolk zu nennen.“ Manfred Kyber, Schriftsteller (1880-1933)
Medizinische Aspekte
Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Wirkung, die beim Tier beobachtet wird, auch beim Menschen auftritt und umgekehrt. Wären Penicillin, Aspirin und Paracetamol mit Tierversuchen auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit getestet worden, wären sie nie auf den Markt gekommen, da sie bei Tieren Krankheiten hervorrufen. Umgekehrt hatte Contergan in Tierversuchen keinerlei Nebenwirkungen gezeigt. Die künstlichen Bedingungen eines standardisierten Laborversuchs unterscheiden sich völlig vom realen Umfeld von Menschen mit ständig wechselnden Einflüssen aller Art. Die Erfolge der Tierversuche sind entsprechend gering. Nur 30 Prozent aller bekannten Krankheiten sind heute ausreichend behandelbar. Nur fünf von 100 Medikamenten, die nach Tierversuchen in die klinische Prüfung, also Tests mit Menschen, kommen, werden abschließend zugelassen. Selbst danach können neue Nebenwirkungen auftreten und es müssen Warnhinweise ausgegeben werden.
„Die Geschichte der Krebsforschung ist eine Geschichte der Heilung von Krebs bei Mäusen. Seit Jahrzehnten heilen wir Krebs bei Mäusen, aber bei Menschen hat es einfach nicht funktioniert.“ Richard Klausner, ehem. Direktor des National Cancer Institute, USA
Ethische Aspekte
„Die Vivisektion ist das schwärzeste aller schwarzen Verbrechen, dem sich der Mensch heute schuldig macht.“ Mahatma Gandhi
Tierschutz ist Teil des umfassenden Schutzes von Leben, der sich gegen jede Art von Grausamkeit und Unterdrückung wendet. Gesetzlich erlaubt bedeutet nicht automatisch auch moralisch gerechtfertigt. Auch Kinderarbeit, Sklaverei und die Unterdrückung von Frauen waren in der westlichen Welt einst legal. Das ethische Verantwortungsgefühl des Menschen gegenüber allen seinen Mit-Lebewesen muss auch zur Ethik wissenschaftlicher Forschung gehören. Medikamente oder Giftstoffe werden nicht an Menschen gegen ihren Willen getestet. So sollten Menschen auch nicht mit ihren Mit-Lebewesen umgehen. Der Mensch ist nicht höher als andere Lebewesen, sondern einfach nur einer der Zweige des Baumes der Evolution. Der Mensch ist nur eine Art unter vielen. Er sollte nicht ständig Tier-Opfer produzieren. „Es führt uns dazu, unsere Überzeugungen und unsere Emotionen zu überprüfen.“ (Barbara James, Tierschutz-Autorin)
„Der Mensch hat auf dieser Erde nur eine Überlebenschance, wenn es ihm gelingt, mit der Natur Frieden zu schließen.“ Corina Gericke, Ärzte gegen Tierversuche
Neue Wege
„Das Problem liegt nicht in den neuen Ideen, sondern darin, die alten Ideen hinter uns zu lassen.“ John Maynard Keynes, Ökonom (1883-1946)
Ein Mitgefühl aus der Vorstellung heraus, dass andere Wesen uns nicht radikal verschieden sind, führte 1822 in England zum ersten Gesetz gegen unnötige Grausamkeiten an Tieren. Dort wurde auch der 24. April als „Tag des Versuchstiers“ ausgerufen. In den 1980er-Jahren wurden Organisationen wie „PETA“ und „Ärzte gegen Tierversuche“ gegründet. Es kam und kommt überall zu Demonstrationen gegen Tierversuche, in Bonn etwa am 4.4.1984 oder am 15. 11.2013. Mittlerweile finden am Tag des Versuchstiers sogar an forschenden Universitäten Informationsveranstaltungen statt, 2023 auch an der Uni Bonn. Doch die Uni setzt wie die EU und das deutsche Tierschutzgesetz auf die Methode „3R“. Das steht für „Reduce, Refine, Replace“ und meint die Absicht, Tierversuche zu reduzieren, zu verfeinern (weniger Leid zuzufügen), zuletzt zu ersetzen. Tierversuche werden aber generell nicht infrage gestellt.
Doch heutzutage gibt es Computerprogramme, mit denen im Studium Übungen und Obduktionen virtuell durchgeführt werden können, und Simulator-Modelle von Tieren, an denen Intubation, Tumorentfernung und Knochenoperation geübt werden können. Man kann sich auch von Tierversuchen befreien lassen.
Seit 2010 gibt es das Zentrum für Alternativen zum Tierversuch in Europa (CAAT-Europe) an der Uni Konstanz. Zu diesen Alternativen zählen Computersimulationen (In-silico) und Tests mit Zellen oder Gewebe (in vitro/ im Reagenzglas).
Mini-Organe werden aus Stammzellen gebildet und auf kleinen Kunststoff-Chips aufgebracht. Zusammen mit Computerprogrammen, die auf menschlichen Daten basieren, sind automatisierte Tests möglich, mit denen sich viele Substanzen innerhalb von Stunden testen lassen, zuverlässig, preisgünstig, mit reproduzierbaren, eindeutigen Ergebnissen. Die sind dann auch sofort auf den Menschen übertragbar. Es können sogar auf jeden Menschen individuell zugeschnittene Medikamente erstellt werden. Mit einer Computer-Datenbank kann belegt werden, dass es Testdaten zu einer Chemikalie bereits gibt. Denn im Durchschnitt wurde jede Chemikalie schon dreimal im selben Tierversuch eingesetzt.
Im September 2021 stimmten im EU-Parlament 667 gegen vier Abgeordnete für den schrittweisen Ausstieg aus der Verwendung von Tieren in der Forschung und bei Versuchen. Das niederländische Parlament forderte im Juni 2022 die Regierung dazu auf, Tierversuche zu reduzieren. Und seit Januar 2023 entfällt in den USA die Anforderung an Unternehmen, die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ihrer Produkte zwingend mittels Tierversuchen nachweisen zu müssen. Stattdessen sollen tierfreie Verfahren eingesetzt werden. „Es ist an der Zeit, dass das Recht endlich mit der Wissenschaft Schritt hält“, sagte dazu US-Senator Rand Paul.
Das eindrücklichste Beispiel für die erfolgreiche Anwendung tierversuchsfreier Methoden hat in der jüngsten Zeit die Entwicklung des Corona-Impfstoffes „Comirnaty“ gegeben. Das dauerte gerade einmal 12 Monate und fand auch unter Einsatz von tierversuchsfreien Methoden statt.
Mit der Entwicklung von tierversuchsfreien Forschungsmethoden wird der medizinische Fortschritt keinesfalls verhindert, sondern gefördert. Sie werden jedoch nur mit wenig staatlichen Forschungsgeldern versehen, müssen sich aber strengen Zulassungsregeln (Validierung) stellen, die für Tierversuche nie vorgesehen waren und sind.
„Nichts ist schwieriger und erfordert mehr Charakter, als sich offen in dem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und zu sagen: NEIN.“ Kurt Tucholsky (1890-1935)
Menschen von heute haben im Gegensatz zu Tucholskys Zeit die Chance, offener und einfacher ihren Standpunkt gegen jede Art von Gewalt zu vertreten und Rückgrat zu zeigen. Informieren Sie sich, engagieren Sie sich und klären Sie auf! Demonstrieren Sie, schreiben Sie Petitionen gegen Tierversuche. Einiges hat sich ja schon getan, es ist eine Frage der Zeit, dass quälende Tierversuche ganz zugunsten alternativer Möglichkeiten ersetzt sein werden. Bleiben Sie dran für die Rechte der Tiere. Engagement steckt an und hilft letztendlich den Tieren: „Aufstehen für ein mitfühlendes Dasein mit aller Kreatur.“ Pierre Stutz, Schweizer Theologe.
Informationsquellen-Auswahl:
Gericke, C. : Was Sie schon immer über Tierversuche wissen wollten, 2015 // aerzte-gegen-tierversuche.de // peta.de // Deutschlandfunk: Geschichte der Tierethik, 21. September 2023
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Dieser Artikel hat mich maßlos aufgeregt. Anstatt die im Subtitel gestellten Fragen objektiv zu erörtern, werden aktivistische Parolen verbreitet. Wissenschaftler:innen pauschal als Teil der „Versuchstierlobby“ zu verunglimpfen führt bestimmt nicht zu einem konstruktiven Austausch. Der wäre jedoch dringend nötig, da dieser Artikel mal wieder zeigt, dass es beim Thema Tierversuche viele Mythen hartnäckig halten. Den Autoren sei ein Blick in die entsprechende Maithinks Sendung empfohlen, die sich dem Thema durchaus sachlicher widmet und auch deutlich darstellt was es tatsächlich bedeuten Tierversuche sofort zu stoppen – denn den Comirnaty Impfstoff hätte es dann sicherlich nicht gegeben!
Lieber Herr Maus,
wir danken Ihnen für Ihren Kommentar.
Das Autorenteam Esther und Andreas Reinecke-Lison antworten Ihnen wie folgt:
„Wir danken Ihnen , dass Sie uns geschrieben haben und dass Sie unseren Artikel aufmerksam gelesen haben.
1) Wenn wir alle Wissenschaftler*innen gemeint hätten, dann hätten wir das auch so geschrieben. Das haben wir aber nicht getan und das meinen wir auch nicht.
2) Die inhaltliche Ausrichtung eines Artikels ergibt sich aus dem jeweiligen Blickwinkel von Autor*innen. Und die kann dann unterschiedlich ausfallen: mal so wie bei unserem Artikel, mal so wie bei dem Fernsehbeitrag von Frau Mai.
3) Für die Entwicklung dieses Wirkstoffs gegen Corona sind auch Tierversuche unternommen worden. Wir haben nicht behauptet, dass hierbei keine Tierversuche unternommen worden sind.
Wir haben am Ende des Artikels geschrieben, dass es „eine Frage der Zeit“ ist, „dass quälende Tierversuche ganz zugunsten alternativer Möglichkeiten, beendet sein werden“. Wir haben nicht gesagt, dass Tierversuche „sofort“ beendet sein werden.
Anfang Dezember 2023 hat der Pharmakonzern Merck die Mittelung herausgegeben, dass die Klinische Phase eines Wirkstoffs gegen Multiple Sklerose abgebrochen wurde.
https://www.finanzen.ch/nachrichten/aktien/merck-aktie-fallt-zweistellig-mercks-hoffnungstrager-evobrutinib-verfehlt-ziele-in-phase-iii-tests-1032875929
Das deutet darauf hin, dass der Wirkstoff in zuvor durchgeführten Tierversuchen sich als wirksam erwiesen hatte, beim Menschen nun aber nicht.“