Bonn – Arche Noah alter Obstbaumsorten
Markus Radscheit ist technischer Leiter der Botanischen Gärten der Universität Bonn. Zudem betreibt er hobbymäßig den erfolgreichen YouTube-Kanal „Der Gartencoach“, wo er zahlreiche Tipps für einen florierenden Garten gibt. Nun ist sein praktischer Ratgeber „Willkommen beim Gartencoach“ in Buchform erschienen. Im Interview sprachen wir über Herkunft, Wert und Pflege alter Obstbaumsorten.
Melanie Alessandra Moog
Inwiefern ist Bonn ein besonderer Standort, wenn es um Obstbäume geht?
An den Bio-Marktständen am Bonner Münster kann man noch Obst regionalen Ursprungs kaufen, beispielsweise von Bornheimer Bauern. Denn im Raum zwischen Bonn und Köln hat sich eine traditionell landwirtschaftlich genutzte Region etabliert: Seit den 1920ern bis in die 60er Jahre entstanden Ansiedlungen von Hunderten kleiner Gärtnereien. Jede dieser Gärtnereien produzierte ihre eigenen Nutzpflanzen, also Obst und auch Gemüse, und hat diese dann mehrheitlich auch auf den lokalen Märkten mit eigenem Portfolio verkauft. Das Ganze ist heute wegdiffundiert – es gibt zwischen Bonn und Köln nur noch vereinzelt Großgärtnereien, die sehr spezialisiert sind und an Diversität eingebüßt haben.
Und hier kommen die alten Obstbaumsorten ins Spiel:
In Bonn wurde besonders in kolonialer Zeit intensiv an standortangepassten Züchtungen und Veredelungen gearbeitet. Unser Botanischer Nutzpflanzengarten geht auf koloniale Zeiten zurück: Hier wurden Gärtner ausgebildet, die auch in Übersee eingesetzt wurden.Wir haben eine ähnlich lange Historie wie Witzenhausen bei Kassel mit dem dortigen Tropengewächshaus. Heute kann man dort organischen Landbau auf akademischem Niveau studieren. Am Standort Bonn sind einige ausgezeichnete Obstbaumsorten entstanden und studiert worden, unter den Pfirsichen zum Beispiel der „Rekord aus Alfter“. Das ist ein Pfirsich, der, wie die Weintraube, von den Römern mitgebracht wurde, sich an die Region angepasst hat und mit dem Klima hier erfahrungsgemäß am besten zurechtkommt. Hier sind also viele Sorten gehalten worden und dann haben sich die passenden Kandidaten herauskristallisiert. Wir haben hier im Garten außerdem eine alte Kirschsorte, die „Poppelsdorfer Schwarze“. Sie ist mal entdeckt worden an einem der Hänge hier in Poppelsdorf, drüben beim Wingert, der großen Schrebergartenkolonie. Dort stand eine reichhaltige Kirschenpopulation und diese „Poppelsdorfer Schwarze“ war immer als eine lokale Rasse angesehen worden, auch wenn man nicht genau sagen kann, wann und wie sie eingeführt wurde. Da es diese Form auch nicht woanders gab, hat man sie nachträglich „Poppelsdorfer Schwarze“ getauft. Es ist eine Süßkirsche mit miserablen Lagereigenschaften. Diese kann man, anders als die „Schwarze Knorpelkirsche“ schlecht länger als eine Woche lagern und muss sie sofort verzehren. Sie wurde daher vom Lebensmittelmarkt nicht anerkannt. Sie hat große Ähnlichkeit mit der hessischen Süßkirsche „Landele“ und da streiten sich die Gelehrten, wie die Sorten genetisch und taxonomisch einzuordnen sind. In jedem Fall ist es eine Sorte, die hier in Bonn sozusagen ihre Kinderstube hat und großgeworden ist. Viele Poppelsdorfer, gerade die Älteren, erinnern sich an sie. Man war damals beim Opa Jupp oder beim Nachbarn und hat immer diese leckeren Kirschen gefuttert. Es kamen tatsächlich ältere Ansässige herein und erzählten von früher, als wir eine Kirsch-Verkaufsaktion im Botanischen Garten machten.
Diese alte Kirschsorte ist mittlerweile selten. Bedeutet „selten“ zugleich „schwer zu kultivieren“?
Nein. Wir haben einen Gärtner in Swisttal, der die „Poppelsdorfer Schwarze“ vermehrt. Er hat also Unterlagen und vermehrt sie mit Stecklingsmaterial oder Veredelungsmaterial, das ursprünglich aus den Anlagen hier am Wingert genommen wurde. Jetzt haben wir mehrere Verbreitungsräume in Poppelsdorf und dem gesamten Bonner Stadtgebiet. Die Sorte ist wie andere Kirschen, auch wie die wilden im Kottenforst, trockenheitsgefährdet. Im Siebengebirge finden wir Prunus avium, die heimische Vogelkirsche, die im Frühjahr so schön blüht.
Auch der Apfel hat hier eine lange Historie, richtig?
Er ist eine der ältesten Kulturpflanzen hier und weltweit. Man sagt, dass sein Ur-Verbreitungsgebiet in Asien ungefähr im Raum des heutigen China liegt. Rechts und links der Seidenstraße hat er sich irgendwann ausgebreitet und wurde dort auch verbessert und selektiert, sodass aus Malus sylvestris ein Mischmasch an Sorten wurde und man heute oft gar nicht mehr genau bestimmen kann, wie die Entwicklung im Einzelnen war. Wir haben jedenfalls viele alte Apfelsorten in Bonn. Barbara Buillon von der Biologischen Station Ruppichteroth hat im Auftrag des Landes den Katalog „Lokale und regionale Sorten im Rheinland“ (LVR) erstellt, der den Rhein-Sieg-Kreis umfasst. Es gibt Sorten wie die „Rheinische Schafsnase“, den „Rheinischen Landapfel“ oder auch den „Rheinischen Bohnenapfel“, den ich zu Hause im Garten habe. Zahlreiche Sorten – wir haben hier irre viel!
Sind manche dieser Sorten vom Aussterben bedroht?
Ja. Wenn man beispielsweise nach Rheinbach hochfährt, stehen dort Apfel- und Birnbäume, von denen niemand erfasst hat, welche Sorten es sind. Wenn dann der Straßentrupp kommt und sie absägt, ist womöglich eine alte Sorte pfutsch – aber niemand wusste es. Die Menschen, die diese Sorten gepflanzt haben, leben nicht mehr, und den Menschen von heute interessiert es oft nicht. Früher wusste man sie als Nahrungsquelle zu schätzen. Man hatte keine Klimaanlage und auch keine Möglichkeit, vieles aus der Ferne zu bekommen und war darauf angewiesen, dass man ausreichend Äpfel ernten und über Weihnachten hinweg noch lange lagern kann.
Den Botanischen Garten Bonn interessieren diese Zusammenhänge. Im Gegensatz zu anderen Botanischen Gärten haben wir expandiert. In unserer Außenstelle im Melbtal sind 1,68 Hektar dazugekommen. Da oben wird seit den 50er-Jahren der Melbgarten als ausgelagerte taxonomische Versuchsfläche mit Terrassen bewirtschaftet. Jetzt sind vor allem Stauden und Gehölze aus Georgien dort – der Kaukasus ist wichtig, weil er eines der Biodiversitätszentren für uns darstellt. Die Eiszeit hatte dort nur mäßigen Einfluss – ein Hotspot für Biolog*innen aufgrund der wahnsinnig großen Pflanzenvielfalt. Von dort kamen viele Pflanzen später zu uns, denn wir haben ähnliche Standortbedingungen. Mit dem Direktorenwechsel fand im Melbtal auch ein Schwerpunktwechsel statt: Jetzt erforschen und pflegen wir vor allem Nutzpflanzen, darunter viele historische und ausgefallene Obstsorten: Den Ursprung der Birne, der Quitte und des Apfels, vor allem sowjetische Formen und Vorläufer. Zur Vermehrung bringen uns die Samen und Kerne beim Obstbaum nichts. Wir sind also nicht auf eine Samenbank, sondern auf Edelreiser angewiesen. Denn genetisch würden sich die Sorten bei Vermehrung sonst „aufmendeln“, also nach den Regeln von Gregor Mendel genetisch verändern. In Bonn gibt es einen Reiser-Muttergarten in Roleber. Die Landwirtschaftskammer war schon immer bemüht, alte Sorten zu bewahren, um sie als Vermehrungspool vorrätig zu haben. Auch Haseln, Maronen und andere sind Mutanten und nicht samenecht, werden also über das Aufpropfen vermehrt. In unserem Weinbauklima wachsen sie wild, aber auch die dicken Mittelmeer-Maronen funktionieren, damit experimentiere ich zur Zeit. Der Melbgarten der Uni Bonn ist eine Art Arche Noah und konzentriert sich auf die wichtigsten alten Sorten. Sie wurden in Königswinter bei einem Vermehrungsbetrieb in Auftrag gegeben und dann hier am Venusberg ausgepflanzt: Apfel, Pflaume, Birne, Kirsche und Pfirsich stehen dort auf der Streuobstwiese.
Stichwort Streuobstwiese – das ist ein sehr interessanter Kulturraum. Inwiefern ist er von Bedeutung?
Zunächst einmal sind es Wiesen, auf denen man Hochstämme hält, traditionell auf Weideland. Die Sorten spielen ökologisch eine große Rolle. Erst einmal heißt das alles aber noch nicht viel. Man kann eine Streuobstwiese mit hohem Pestizideinsatz belasten oder alles ist abgemäht. Es ist zunächst ein Ort, an dem schnellwüchsige Obstgehölze stehen. Was wir gern hineininterpretieren, ist, dass dort Ökolandbau betrieben wird, dass dort eine reichhaltige Insektenflora ist, mit vielen Blüten voller Nektar für Wild- und Honigbienen, mit Langgrasflächen als Rückzugsgebiete, und dass auch die Borke der Obstbäume Überwinterungsmöglichkeiten für Käfer bietet. Spechthöhlen und Nistmöglichkeiten für andere Vögel vermuten wir dort. Deswegen sind gerade alte Streuobstwiesen mit knorrigen Bäumen tatsächlich bedeutsam.
Sie haben also das Potenzial, ökologisch wirksam zu werden.
Ja. Unsere Obstbaumwiese im Melbgarten ist jedoch erst in 10 bis 15 Jahren so weit. Solche Pflanzengesellschaften benötigen Zeit und auch die richtige Pflege. Immerhin haben wir ein Habitat für bodenbrütige Insekten abgeschabt und auch ein Amphibienbiotop aus gesammeltem Niederschlagswasser angelegt, wo sich Unken und Kröten vermehren. Auch gibt es jetzt einen Wall, zwei Meter hoch und neun Meter breit, aus lehmiger Erde von der Baustelle am Poppelsdorfer Campus – sozusagen eine Neubaufläche für lehmwandbrütende Insekten an der Streuobstwiese. Man kann viel kaputt machen, wenn man Freiräume schlecht bewirtschaftet und Hochstämme nicht richtig schneidet.
Wie lerne ich, Obstbäume richtig zu pflegen?
Der Pomologen-Verein ist deutschlandweit aktiv und bietet Schnittkurse für Interessierte an, beispielsweise in Oberdollendorf bei Bonn. Zunächst schaffe ich mir mit meinem Apfelbaum ein Grundgerüst aus Unterlage und Veredelung, das den ersten „Erziehungsschnitt“ bekommt, an drei oder vier Hauptästen.Als nächstes folgt der Erhaltungsschnitt. All das lernt man am besten unter fachkundiger Anleitung. Der Pomologen-Verein bietet den Königsweg. Er ist sozusagen die Sorbonne des Obstbaumschnitts. Ich kann auch an der FH Schnittkurse machen oder bei der Baumschule Fuhs in Alfter, ebenso beim Sängerhof in Meckenheim. Viele wissen beispielsweise nicht, dass die Obstbäume den Schnitt im Sommer besser tolerieren als im Herbst. Wenn man einmal die Grundprinzipien verstanden hat, kann man das Wissen auf alle Obstbaumsorten anwenden.
Passen Obstbäume in die nachhaltige Stadtplanung?
In der Stadt Bonn wurden am neu gestalteten Uni-Areal in Poppelsdorf Maulbeerbäume eingesetzt – ein „essbarer Campus“. In der Planung wurde aber versäumt, die Erntebedingungen zu bedenken. Das Obst muss erreichbar sein, hängt hier aber in vier Metern Höhe, fällt den Radfahrern auf den Helm und verschmiert den Gehweg und teure Denkmal-Steine. Inwiefern Obstbäume in die essbare Stadt integrierbar sind, hängt von einer guten Planung ab – ein Vorbild ist die „essbare Stadt“ Andernach nahe Koblenz. Ein guter Lösungsansatz in Bonn ist die Übernahme ehrenamtlicher Patenschaften für Baumscheiben durch Bürger*innen, die dann den Saum rund um den Stamm des Baumes regelmäßig pflegen. Insgesamt spreche ich ein Plädoyer für mehr Obstbäume – wo immer möglich – aus. Wir haben mittlerweile das Bewusstsein dafür, was (nicht) nachhaltig ist. Wieder mehr bewährte Obstbaumsorten in Gärten, auf Streuobstwiesen, in der Landwirtschaft und wo immer möglich zu halten, ist aufgrund der globalen Umweltprobleme wichtiger denn je – und sichert auch den Fortbestand unserer alten Sorten!
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