Unser Planet leidet…

1. Januar 2018 | Gesellschaft, Esther & Andreas Reinecke-Lison, Ökologie | 0 Kommentare

… an zu viel Linearität

Die Zahl der Menschen wird sich bis 2050 auf wohl 10 Milliarden Menschen erhöhen. Aus konventioneller Sicht ist der Einsatz von Chemie, Gentechnik und Massentierhaltung zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion alternativlos. Doch der Spielraum in der nachhaltigen Landwirtschaft ist immens, um gangbare Alternativen zu finden, die den Kreislauf der Natur und die Menschen respektieren.

„Von allen Menschenrechten ist das Recht auf Nahrung dasjenige, welches auf unserem Planeten sicherlich am häufigsten, am zynischsten und am brutalsten verletzt wird.“ Jean Ziegler

An Hunger und Unterernährung leiden ca.1 Milliarde Menschen. Die Gründe sind bekannt, die Folgen furchtbar: An Hunger und Hungerkrankheiten sterben ca. 9 Millionen Menschen pro Jahr. Hier muss unbedingt die Noma-Tragödie erwähnt werden. Diese Erkrankung befällt vor allem Kinder bis zu 6 Jahren und zerstört durch granöse Prozesse das Gesicht des Kindes, was entsetzlich ist: Es kann nicht mehr essen und sprechen. Ziegler: „Die kleinen Opfer werden aus der Gesellschaft entfernt, isoliert, zu Einsamkeit und Verlassenheit verurteilt“. 80% der Erkrankten sterben daran.

„Zum Bauern schaut niemand auf, seine Arbeit wird im Grunde verachtet.“ Jean Feyder

Paradox ist, dass von Hunger vor allem die Menschen betroffen sind, die sich von Landwirtschaft zu ernähren versucht: Ackerbauern, Viehbauern, Fischer – überwiegend Frauen. Sie trotzen extremer Armut als Wanderarbeiter ohne Land und werden ausgebeutet. Weltweit dominiert eine euphemistisch genannte „neue grüne Revolution“ nach der Logik der Industrieländer und internationaler Konzerne. Mit Einsatz von Technologie, Kunstdünger, gentechnisch veränderten Pflanzen werden auf riesigen Anbauflächen Monokulturen im industriellen Maßstab bewirtschaftet, eine „Bioökonomie“ vorangetrieben. Doch angesichts des Klimawandels und bedrohter Ökosysteme hat die Landwirtschaft dieses Typs keine Zukunft.

„Der Mensch … ist ein Kind der Natur – nicht ihr Herr. Beim Versuch, die Naturgesetze zu umgehen, zerstört er die natürliche Umwelt, die ihn ernährt. Und wenn seine Umwelt rasch zugrunde geht, verfällt seine Kultur.“ E. F. Schumacher

Agrarökologie…

Es gibt mittlerweile genug Beispiele in zahlreichen Ländern, wie eine „Agrarökologie“ unter verschiedenen Gegebenheiten große Erfolge verzeichnen kann. Kleinbäuerliche Landwirtschaft verfügt über große Potentiale in der Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion und auskömmliche Arbeit für Millionen von Menschen. Sind sie es nicht, die gefördert werden müssen? Es gibt Möglichkeiten für eine multifunktionale Landwirtschaft, mit lokalen Initiativen, kleinteiligen Feldern, organischen Anbaumethoden und der Einhaltung von Fruchtfolgen. Ernten werden nicht für den Export genutzt, sondern für Verbrauch vor Ort und regionale Versorgung/Vermarktung. Der Anbau ist an lokale klimatische Gegebenheiten und Bodenbeschaffenheiten angepasst. Das Wissen der Kleinbauern vor Ort wird einbezogen. All das bedeutet eine Umorientierung auf eine gartenähnliche Landwirtschaft und erfordert ein radikales Umdenken aus der herrschenden Logik.

„Man untersuche, wie eine Gesellschaft mit ihrem Grund und Boden verfährt, und man wird zu recht zuverlässigen Schlüssen über ihre wirtschaftliche Zukunft gelangen.“ E. F. Schumacher

…als politische Inititative

COP23 in Bonn: Das Plakat „Power to the Bauer“ machte auf die teilnehmende NGO „La Via Campesina“ aufmerksam. Sie ist eine internationale Bewegung, Zusammenschluss von ca. 164 Organisationen, die ca. 200 Millionen Landwirte, Landlose und Indigene vertritt. Als Alternative zur herrschenden Liberalisierung und Privatisierung fordert sie den Rückzug der WTO aus der Landwirtschaftspolitik. Sie setzt sich für eine umweltfreundliche, kleinbäuerliche Landwirtschaft mit Nutzung eigenen Saatguts ein und für Ernährungssouveränität, die in erster Linie die Versorgung der lokalen Bevölkerung sicherstellen soll.

Der Weltagrarbericht 2008 des Weltagrarrates IAASTD bekräftigt: „Wir brauchen eine agrarökologische Evolution der Landwirtschaft, der Lebensmittelproduktion und des Konsums. Sich ihren jeweiligen Umweltbedingungen anzupassen, ist die Kunst der Landwirtschaft seit Ihren Ursprüngen vor 10000 Jahren. Die Erschließung und Nutzung fossiler Energiequellen…führte in den letzten 60 Jahren zu einer beispiellosen Umgestaltung und Ausbeutung natürlicher Lebensräume…Weiter wie bisher ist keine Option.“ Langfristig können Wald, Wasser und Boden nur durch eine Orientierung an kulturelle, soziale und ökologische Gegebenheiten vor Ort erhalten werden.

…in der Umsetzung

Unabhängig davon geschieht die praktische Umsetzung solcher Ziele zum einen mit Unterstützung staatlicher und nichtstaatlicher Hilfsorganisationen aus der 1. Welt, zum anderen aus eigener privater Initiative. In der Dorfgemeinschaft Manigri in Benin wurden mit Hilfe der Welthungerhilfe ökologisch degradierte Böden, die nach Brandrodungen durch Regen weggeschwemmt waren, wieder fruchtbar gemacht. Als Gegenmaßnahme wurde auf den ausgelaugten Böden die schattenreiche Tamarinde angepflanzt, die Stickstoff bindet und in ihren Wurzeln als Dünger speichert.

Die Anpflanzung solcher „intelligenter Pflanzen“ auf gestressten Böden bietet die Chance, der Not etwas entgegenzusetzen. Nach einer ausführlichen Beratung im Dorf begann man sehr erfolgreich mit der Bienenzucht. Auch für die Frauen des Dorfes haben sich neue Möglichkeiten durch Kleinkredite ergeben. Am Markttag verkaufen sie nun Obst und Gemüse aus eigenen Gärten. Die Einkünfte investieren sie in Maniok, zur Grießherstellung, in die Ziegenzucht oder in eine Existenz als lokale Händlerinnen.

Die GIZ leistete in Malawi nach einer Hungerkrise Anfang der 90er Jahre Nothilfe, aus der ein erfolgreiches Selbsthilfeprojekt entstand. Die Dorfgemeinschaft wurde in Zielauswahl und -umsetzung einbezogen. Autonomie und Unabhängigkeit von Weltmärkten hatten oberste Priorität. Basis wurde der Anbau von verschiedenem Gemüse in Fruchtfolge (v. a. der auch für Kompost und Energie nutzbaren Straucherbse), einer Bewässerung und selbst erzeugtem Saatgut und Kompost. Die 80jährige Amake Agii rät jungen Bauern, „erst einmal etwas anzubauen, was sie zum Leben brauchen und für den Markt nur, wenn sie Überschüsse haben.“ Die jungen Leute „sollen lieber lernen, wie man für seine Grundversorgung viele Feldfrüchte nebeneinander anbaut.“

Zu den privaten Initiativen gehört die Manufaktur ATIQ aus Ecuador, die auf dem Nikolausmarkt Beuel 2017 mit einem kleinen Stand präsent war und sozial- und umweltgerecht produzierte handgefertigte Baumwoll-, Papier- und Lederprodukte anbot. Durch diese Initiative werden traditionelle prä-inkaische Produktionsmethoden und die Autonomie der Handwerksfamilien bewahrt, zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen.

Die Initiative SEKEM („Lebenskraft aus der Sonne“) wurde von Ibrahim Abouleish gegründet. Unweit von Kairo wird seit 1977 biologisch-dynamische Landwirtschaft betrieben. Im Laufe der Jahre war es möglich, 70 ha Wüstensand in fruchtbaren Boden umzuwandeln. Etwa 1500 Menschen arbeiten für SEKEM, ca. 250 Kleinbauern liefern biologisch angebaute Produkte. Natürliche Arzneimittel und viele Lebensmittel, z.B. der SEKEM-Tee, sind in ganz Ägypten bekannt.

Bio-Baumwolle wird selbst zu hochwertigen Textilien verarbeitet und als Kinderbekleidung z. B. bei Alnatura angeboten. SEKEM verbindet Wirtschaft mit kulturellem und sozialem Engagement. Dies umfasst Schulen, ein medizinisches Zentrum, berufliche Ausbildungsprogramme, eine Universität und eine Akademie für Kunst und Wissenschaft. SEKEM steht somit beispielhaft für eine ökologische und faire Fertigung, mit Menschlichkeit und enger persönlicher Bindung. 2003 erhielt Abouleish den Alternativen Nobelpreis. Bei einer Tagung von Nobelpreisträgern für eine nachhaltige Zukunft der Alanus Hochschule Alfter in 2010 erklärte er:

„Unser Planet leidet an zu viel Linearität. Ein wissenschaftliches Studium fördert vor allem das lineare Denken. Wir brauchen Kunst und Philosophie, um die Vorstellungskraft zu entwickeln, um auf neue Ideen zu kommen. Nur so kann nachhaltige Entwicklung und das Potential zur Veränderung entstehen.“

Neue Wege in der Alten Welt

„Wir können die Marktstrukturen nicht ändern – aber als Verbraucher darüber entscheiden, wie wir unser Geld ausgeben und wen wir damit fördern.“

Es ist die Frage, ob es sinnvoll ist, Lebensmittel quer über den Erdball zu transportieren. Wäre es nicht viel besser, sich von lokal produzierten Lebensmitteln zu ernähren, wie es das Beispiel der afrikanischen Kleinbauern zeigt? Das herrschende Wirtschaftssystem mit zu vielen Verlierern kann verändert werden, indem auch bei den Nachfragern der 1. Welt ein Umdenken stattfindet. Wie wäre es, vermeintliche Bedürfnisse zu hinterfragen und die wirklich benötigten Produkte lokal und regional herzustellen und zu handeln – auch und gerade in Städten, wo immer mehr Menschen leben?

Ein Beispiel dafür ist die Initiative der „essbaren Stadt“, die u. a. in Todmorden/England und Andernach am Rhein umgesetzt wird. Obst, Gemüse und Kräuter werden überall in der Stadt angebaut und können von jedermann geerntet werden. Die positiven Effekte für die Menschen umfassen neben Umwelt- auch Gesundheits- und soziale Aspekte.
Ein weiteres Beispiel ist die „Solidarische Landwirtschaft“, die auch in Bonn/Rhein-Sieg aktiv ist. Eine Gemeinschaft zwischen Landwirten (aus Hennef und Bonn) und Privathaushalten teilt sich die Ernte, die Kosten und auch das Risiko. Die Abnahmegarantie macht den Landwirt unabhängiger von Marktstrukturen und Großhandelspreisen. Die regionale Landwirtschaft wird gestärkt, Umweltbelastungen durch Vermeidung großer Transportwege und Ressourcenverbrauch vermindert.

Aussicht

„Ich wünsche mir, dass überall Obstbäume und Beerensträucher wachsen, dann könnten auch die Armen immer Früchte essen. Und wenn ich dann 80 bin und die Straße hinuntergehe, Erdbeeren und Äpfel pflücke, und jeder macht es – das würde mich glücklich machen.“ Mary Clear (61), Mitgründerin der Initiative „Incredible Edible“ in Todmorden.

Literatur: Ziegler: Wir lassen sie verhungern, 2013 / Thurn/Kreutzberger: Harte Kost, 2014 / Feyder: Mordshunger, 2014 /Atlas der Globalisierung 2012 / Weingärtner: Handbuch Welternährung, 2011 / E. F. Schumacher: Rückkehr zum menschlichen Maß, 1977 /phoenix, 16.11 17: Wie werden wir morgen alle satt?

Esther und Andreas Reinecke-Lison

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Beitrag teilen

Verbreite diesen Beitrag!