Nachhaltige Debattenkultur
Besucht man Ökodörfer und andere nachhaltige Projekte im In- und Ausland, an denen mehrere Personen oder gar große Menschengruppen beteiligt sind, so stößt man immer wieder auf besondere Strategien der Kommunikation und Entscheidungsfindung. Sie sollen gewährleisten, dass am Ende wichtiger Debatten jedes Mitglied weitestgehend mit dem beschlossenen Ergebnis zufrieden ist.
Alessandra Moog
Geteilter Idealismus allein genügt fast nie, damit Gemeinschaften funktionieren. Es braucht in den meisten Fällen ein System, Leitsätze oder Führung, wenn bestimmte Ziele fair und effizient erreicht werden wollen. Statt anarchische Freiheiten nutzen viele Menschen in solchen Zusammenschlüssen die Gelegenheit, direkte Demokratie zu praktizieren. Beispielsweise können Mitglieder eines Ökodorfs per Abstimmung entscheiden, wofür sie Gelder aus der gemeinsamen Kasse ausgeben möchten und gestalten ihre unmittelbare Lebensrealität dadurch gleichberechtigt mit.
Entscheidungen im Kollektiv
Sucht man weiter, so stößt man auf noch ausgefeiltere Konzepte, etwa auf das Stichwort Soziokratie. Dabei handelt es sich um eine Organisationsform, bei der Entscheidungsfindung erst mit dem Konsent (Zustimmung) aller Teilnehmenden gelingt. Das heißt, dass, im Unterschied zur demokratischen Abstimmung, auf Minderheitenmeinungen eingegangen wird, um Spannungen zu vermeiden.
Ein Beschluss kann nur dann zustandekommen, wenn niemand erhebliche Zweifel geltend macht.
Das Konsensprinzip geht noch einen Schritt weiter: Lehnt jemand den Beschluss aktiv ab, scheitert er unmittelbar. Gibt es also nur eine einzige Gegenstimme in einer Debatte, so ist die Entscheidung blockiert.
Der Duden definiert den Begriff Konsens (lat. consensus) als Übereinstimmung von Meinungen. Als Synonyme werden Einigkeit, Einklang, Billigung und Einmütigkeit genannt. Was durch das Ziel allgemeiner Einstimmigkeit vermieden werden soll, ist verdeckter oder offener Widerspruch und damit Unfrieden und Missmut in der Gruppe. Allerdings können Gruppenprozesse, bei denen das Konsensprinzip angewandt wird, anspruchsvoll und langwierig sein. Bei der Konsensdebatte ist es immerhin meist gestattet, sich der Stimme bei Unschlüssigkeit zu enthalten, um den Prozess im Zweifelsfall nicht noch weiter zu erschweren.
Gelungene Verständigung
In vielen Ökodörfern leben weit über 100 ältere und jüngere Menschen sowie Kinder permanent zusammen – doch nicht nur dort, sondern auch in kleineren Projekten können regelmäßige Plenumsveranstaltungen sinnvoll und wichtig sein.
Dies ist etwa im traditionsreichen dänischen Ökodorf Dyssekilde der Fall: Hier wird in einem großen Saal mindestens viermal im Jahr ausführlich beraten. Bei wichtigen Entscheidungen sitzt man zunächst an Gruppen tischen, bevor ausgearbeitete Vorschläge mit allen geteilt und Lösungen gemeinsam im
großen Kreis eruiert werden. So kommt jede Person mindestens einmal zu Wort. Themen sind etwa die Aufgabenverteilung oder geplante Ausgaben.
Matawa Baio, ein Bewohner des Ökodorfs, beschreibt die soziale Komponente des preisgekrönten Projekts in seinem im Eigenverlag erschienenen Buch A Sustainable Village. From Potatoe Field to the Best Village of the Year (Toptryk 2022). Die Debatte orientiert sich stets an gemeinsamen Werten und Leitgedanken, die im Vorfeld festgelegt wurden, und welche alle Teilhabenden befürworten – sie bilden
den sprichwörtlichen gemeinsamen Nenner. Zudem spielt Achtsamkeit im Austausch eine große Rolle.
Gewaltfreie Kommunikation
Auch hierzu findet man in vielen ökologischen Gemeinschaften gut erprobte und etablierte Ansätze: Im niedersächsischen Ökodorf Lebensgarten Steyerberg e.V. wird die gewaltfreie Kommunikation nach Dr. Marshall B. Rosenberg gelehrt und praktiziert.
Rosenberg, ein US-amerikanischer Psychologe und Mediator, war zu Lebzeiten persönlich vor Ort und hinterließ einen bleibenden Eindruck, da er praktische Wege vermittelte, damit Gemeinschaften auch trotz Dissenz bestehen können. Seine Strategien für eine empathische Debattenkultur erlangten weltweit Renommee. Sie bilden handfeste Möglichkeiten, kritische Auseinandersetzungen effzient zu gestalten, eigene Standpunkte angemessen zu formulieren, Kontroversen zu überstehen und zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen.
Konsens – sinnvoll oder Nonsens?
Einerseits geht es bei der nachhaltigen Debattenkultur also um Achtsamkeit, die sich bestenfalls sowohl in unserer inneren Einstellung als auch in Vokabular, Gestik und Mimik widerspiegelt. Aktives Zuhören und gemeinwohlorientiertes Zusammenarbeiten sind weitere Voraussetzungen, die das Gelingen
eines Konsensbeschlusses wahrscheinlicher machen.
Andererseits soll die Entscheidungsfindung nicht nur sauber und einfühlsam kommuniziert werden, sondern auch für alle Beteiligten tragbar sein.
Nun darf man sich aufgrund der Komplexität dieses Ansatzes allerdings fragen, warum das für die Demokratie so wichtige Mehrheitsprinzip vielen Gemeinschaften nicht genügt, um durchsetzungsstarke Beschlüsse zu fassen.
Als Grund wird oft Folgendes genannt: Da sich in alternativen Gemeinschaftsprojekten häufig private, finanzielle und berufliche Themen mischen und das Zusammensein langfristig angelegt ist, wird gelungene Kommunikation hier zum zentralen Faktor für den Erfolg, weshalb sich viele solcher Gemein-
schaften für das Konsensprinzip entscheiden.
Damit sich alle Betroffenen ernst genommen fühlen und die gemeinsame Entscheidung möglichst tatkräftig und ohne Missmut unterstützen, wird großer Wert auf Einstimmigkeit gelegt, auch wenn sich der Weg dort hin weitaus mühsamer gestalten kann als bei einem einfachen Mehrheitsentscheid.
Die Opposition wird bei wichtigen Entscheidungen nicht einfach überstimmt, sondern im Vordergrund steht der Anspruch, ein nachhaltiges Miteinander zu ermöglichen, indem sich am Ende alle repräsentiert fühlen. Andere Meinungen werden nicht nur ausgehalten und toleriert, sondern tatsächlich im Ergebnis berücksichtigt. Inwiefern sich ein solcher Anspruch auch auf höherer Ebene, etwa in Gemeinden oder Staatsgebilden realistisch anwenden ließe, steht auf einem anderen Blatt.
Im nachfolgenden Zitat von Rosenberg ist die Idee der friedlichen Verständigung prägnant formuliert: „Unser Überleben als Spezies hängt von unserer Fähigkeit ab, zu erkennen, dass unser Wohlergehen und das Wohlergehen anderer tatsächlich ein und dasselbe sind.“ (Marshall Rosenberg).
Der Text ergibt sich auch aus Recherchereisen für das folgende Buchprojekt der Autorin: Arvay/ Moog: In Zukunft selbstversorgt. Wegweiser in ein autarkes Leben. Bastei Lübbe, Köln 2023.
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