Mein fleischloser Tellerrand
Rationale Gründe, kein Fleisch zu essen, sind Tier-, Klima- und Umweltschutz. Zum Fleischverzicht führten mich zu viel Fett, Fukushima und ein sterbendes Rind. Das war jedoch keine Kopfentscheidung, sondern ein innerer Ruf. – Ein Essay über meine Auseinandersetzungen mit Fleisch, Missgunst und mir selbst.
„Komm, Ingo! Das hier kannst du essen. Das ist ganz mager.“ Mit diesen Worten wollten mich meine Großeltern immer wieder aufs Neue überreden, doch auch etwas vom Fleisch zu nehmen. Als kleiner Junge war ich oft bei ihnen zum Mittagessen. Das Wort mager erlernte ich durch ebendiese Wiederholungen am Esstisch. Seiner Bedeutung von fettarm oder fettfrei war ich mir jedoch noch nicht bewusst. Weil für mich aber klar war, dass ich unter keinen Umständen dieses Fleisch essen wollte, war „Das ist ganz mager“ für mich kein werbendes Argument. Im Gegenteil, es erzeugte weitere Abwehr in mir. Meine damalige Logik: Wenn Fleisch mager ist, dann bedeutet mager nichts Gutes.
Bloß (kein) Fleisch
Meine Familie hatte mich, nachdem ich Mitte der 1970er Jahre zur Welt gekommen war und allmählich feste Kost zu mir nehmen konnte, zunächst noch ganz anders kennen gelernt. So soll ich angeblich verrückt nach Fleisch gewesen sein. Zumindest erzählte sie es mir später immer wieder so. Ich selbst kann mich an diese Zeit und an dieses Verlangen nicht erinnern. Ich war zu jung. Dann, noch während mein zwei- oder dreijähriges Hirn damit beschäftigt war, auch aus tierischen Proteinen bleibenden Speicherplatz für meine baldigen ersten Kindheitserinnerungen zu basteln, trat das für meine Familie Unmögliche ein: Ich rührte kein Fleisch mehr auf meinem Teller an; vom einen auf den anderen Tag.
Wie es dazu kam? Keine Ahnung. Aufgeklärt werden konnte dieser Fall nie. Und ich war noch zu klein, um auszusagen. Eine Theorie meiner Mutter besagt, meine Oma könnte mir eine vor lauter Fett schwabbelnde Portion Fleisch verabreicht haben. Etwa so etwas Polarisierendes wie Eisbein. Davon sei mir vielleicht schlecht geworden. Diese Theorie könnte zutreffen, da meine Großeltern tatsächlich sehr gerne fettreiches Fleisch mochten. Gewiss ein möglicher Ausgleich für ihre Entbehrungen während des Zweiten Weltkriegs. – Quietsch! Noch immer höre ich das belustigende, gleichsam aber auch irritierende Geräusch, wenn sich meine Oma ein Stück Schweineschwarte in den Mund geschoben hatte. Quietsch! Minutenlang kaute sie genüsslich darauf herum. Quietsch! Eine meiner ersten Erinnerungen.
Mehr Fleisch. Mehr Wegsehen.
Im folgenden Schulkindalter konnte ich mich zur Freude meiner Familie allmählich wieder mit wenigen fleischlichen Mahlzeiten anfreunden. Meine Auswahl war winzig. „Aber immerhin isst der Junge jetzt wieder Fleisch!“, löffelte meine Sippe zur Suppe. Ewige No-Gos jedoch: Fettigschwabbelndes, Ungegartes und Innereien. Gelangte davon doch einmal etwas zwischen meine Zähne, so krümmte sich gleich mein Würgereflex. Ich nahm jetzt wieder sehr gerne vom mageren(!) Grillhähnchenfilet, fand Bratwürstchen und Frikadellen wahrlich köstlich und liebte Pfeffersalami oder Mortadella auf meinen getoasteten Brotscheiben.
In meinen jugendlichen Jahren kamen weitere Fleischereien hinzu: Schweinelendchen, Sauerbraten, Rindersteak, Gulasch, Döner und noch einiges mehr. Meine Verwandten hatten es also immer leichter mit mir, da sie mir immer weniger „Extrawürste braten“ mussten. Ich erinnere mich, dass ich damals zwar bereits von Missständen in der Fleischproduktion gehört hatte, doch vermied ich es, mich damit zu beschäftigen. Und das konnte ich natürlich am besten, indem ich mich weiter in anonymisierte Burger, Döner und Salami festbiss.
Mehr Gewicht
Als junger Erwachsener war ich immer sehr dünn gewesen. An fast einem Meter neunzig Körpergröße hafteten über lange Zeit nur 75 Kilogramm Körpergewicht. Aber kurz nach meinem 26. Geburtstag änderte mein Stoffwechsel irgendetwas an seiner gewohnten Arbeitsweise. Konnte ich bis dahin von allem so viel essen wie ich wollte, verblieb ab jetzt scheinbar von jedem Bissen ein winziger Teil in meinem Körper und beteiligte sich an der systematischen Bildung von Fettzellen. In den nächsten etwa zehn Jahren mästete ich mich auf diese Weise zusehends, bis ich schließlich satte dreißig Kilogramm mehr zur Waage trug.
Blutiges Schlüsselerlebnis
Das Jahr 2011 wurde zu einem bedeutenden Wendepunkt meines bisherigen Lebens. Ich war jetzt Mitte dreißig. Die Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima riss mich aus einem Dämmerschlaf. 25 Jahre nach Tschernobyl ein erneuter Super-GAU. Schock! Altes Trauma neu! Die Menschheit musste sich endlich ändern! Ich musste mich ändern! – Mehr und mehr hinterfragte ich vieles und ging andere Wege. So stieß ich beim Blicken über neue Tellerränder irgendwann auf eine dieser Dokumentationen über Massentierhaltung und die Zustände in Schlachthäusern. Es war eine Dokumentation ohne Kommentare aus dem Off. Die Bilder allein sollten für sich sprechen.
Was ich daraus nie vergesse, ist eine Schlachthausszene, die mich bis ins Mark traf und bis heute prägt: Ein Rind wird an sein verfrühtes Lebensende geschoben. In einer schulterhohen Box, gerade so breit und lang wie das Tier selbst, steht es eingepfercht und spürt sehr genau, dass es gleich getötet wird. Sterben? Jetzt? Hier? So? Es versucht, der Box zu entkommen, stampft laut mit seinen Hufen. Ein Mitarbeiter nähert sich. Seine Aufgabe ist es, einen Bolzenschuss möglichst präzise, aber zu allererst möglichst zügig auf die Stirn des Rinds abzugeben. Für ihn sind es Schüsse im Akkord. Keine Zeit für Respekt und Würdigung des Geschöpfs.
Der Arbeiter setzt sein Werkzeug an. Todesangst und Lebenswille quellen aus den panisch aufgerissenen Augen des Opfers hervor. Es presst sich nach hinten, kommt nicht frei. Es ahnt, worauf bei ihm gezielt wird, und dreht seinen Kopf weg. Es will sich noch einmal freizappeln, am liebsten fortzaubern, in die Freiheit, zurück in sein Leben. Dann ein heftiger dumpfer Stoß. Ist es tot? Nein. Bewusstlos? Eher nur stark benommen. Das aber reicht aus.
Die Seitenwand der Box neigt sich zur Seite hinunter und der riesige Körper sackt heraus. An ein Hinterbein des gelähmten Rinds wird der Haken eines Hebekrans befestigt. Es wird angehoben und schwebt nun unwillkürlich zuckend ins offene Messer des nächsten Akkordarbeiters. Mit einer groben Bewegung durchtrennt dieser die Halsschlagader. Der schmerzvolle Schnitt zerrt das Rind aus seiner Benommenheit. Erwacht und zugleich sterbend sieht es mit an, wie sein eigenes Herz sein Blut am Kreislauf des Lebens vorbei hinunter auf den bereits dunkelroten Fußboden pumpt.
Danach wurde ich erneut zum Vegetarier. Diesmal als Erwachsener. Ich rührte kein Fleisch mehr an; vom einen auf den nächsten Moment. Und ich spürte, dass das nun immer so bleiben wird. Mein Wille, nicht mehr Teil der Nachfrage und also kein Verursacher für das Töten von Tieren zu sein, war und ist kräftiger als meine Lust, im Sommer mal wieder eine leckere Grillwurst zu essen. Hübscher Nebeneffekt: Einfach nur durch das Weglassen von Fleisch- und auch diversen Milchprodukten habe ich innerhalb von vier Jahren mehr als zwanzig Kilogramm Körpergewicht verloren.
Fleisch ist austauschbar
Heute weiß ich, dass es im Grunde nur der aus Gewürzen (und Geschmacksverstärkern) komponierte Geschmack war, den ich an vielen Fleischmahlzeiten so gerne mochte. Ohne Gewürze hätten jede Frikadelle und jede Wurst meine Geschmacksknospen sich vor Langeweile abwenden lassen. Das Fleisch und dessen Fett sind – platt gesagt – einfach nur Kaumasse und Träger der beigemischten Zutaten.
Damit ist Fleisch aber auch austauschbar. Diese Erkenntnis haben zu meiner Freude einige Innovator*innen zum Anlass genommen, so manch leckeres Fleischersatzprodukt zu entwickeln. Es sind Produkte, die so schmecken (sollen) wie zum Beispiel Salami, Mortadella, Leberwurst, Geflügelschnitzel oder Frikadellen. Genau mein Ding also. Zugegeben, Veggieartikel, die als fleischfreie Kopie herhalten sollen, sind schon recht lange in den Geschäften zu finden. Doch dass auch ihr Geschmack und darüber hinaus sogar deren Konsistenz an das tierische Original herankommen können, beobachte ich erst seit etwa fünf bis sechs Jahren. Ich esse solche vegetarischen und veganen Imitate sehr gern. Selbstverständlich erhebe ich nicht den Anspruch, dass sie in irgendeiner Weise gesund seien. Das sind die Originale aber ebenso wenig. Darum geht es mir in erster Linie auch nicht so sehr. Es geht mir darum, dadurch hin und wieder Geschmackserlebnisse haben zu können, wie ich sie früher so gerne genossen habe.
Ist Fleischersatz absurd?
Interessant finde ich jene Momente, in denen (zum Glück nur wenige) Fleischessende kopfschüttelnd ihr Unverständnis äußern und kritisieren, dass ich überhaupt Fleischersatzprodukte esse: „Schließlich habt ihr Vegetarier und Veganer euch bewusst gegen den Verzehr von Fleisch entschieden.“ So aber sei eine vegetarische oder vegane Ernährung doch völlig absurd. – In meinen Ohren klingt das so als würden sie „uns“ den Geschmack einer feinen Falschwurst nicht zugestehen wollen. Auf den ersten Blick scheint es so, dass sich solche Menschen zu selbst ernannten Ernährungsrichter*innen erheben und lustig machen wollen.
Vielleicht glauben sie ja, eine Schwachstelle oder Inkonsequenz aufgedeckt zu haben. Oder sie fühlen sich insgeheim gekränkt, weil ich nicht so essen möchte wie sie. Womöglich verbirgt sich bei vielen dahinter auch das Glimmen eines schlechten Gewissens, weil sie wider besseren Wissens an ihrem Fleischkonsum festhalten. Womöglich fühlen sie sich besser in der Vorstellung, dass andere, die sich Nie wieder Fleisch! auf die Fahne geschrieben haben, selbst nicht „heilig“ sein können. In etwa so wie manche Raucher*innen eine Art Absolution darin fühlen, wenn sie jemanden, der gerade mit dem Rauchen aufgehört hat, mit der nebligen Lüge „Nur dieses eine Zigarettchen!“ zurück auf ihre geteerte Seite ziehen können.
Dreiklang der Veränderung
Es bedarf oft eines individuellen Schlüsselerlebnisses, um eigene tief verwurzelte Verhaltensweisen nicht nur zu hinterfragen, sondern auch dauerhaft verändern und neu auszurichten zu können. Das kann ein plötzlicher Gedanke sein. Das kann das Lesen eines Artikels sein. Oder es kann eine einzige Minute aus einer Filmdokumentation sein. Problem bei Schlüsselerlebnissen ist nur, dass sie selten gewollt herbeigeführt werden können. Um wirkliche Veränderung zulassen zu können, reicht der Verstand allein nicht aus. Der innere Ruf Mach! Jetzt! ist ein kraftvoller Dreiklang aus Bauch, Herz und einer Prise Kopf.
Erschienen in der BUZ-Ausgabe März/April 2020.
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