Umweltbewusstsein und Tradition in den Anden

6. August 2021 | Gesellschaft, Melanie Alessandra Moog, Ökologie | 0 Kommentare

Die Pachamama-Kultur

Wie wirken sich die traditionelle Naturphilosophie und –spiritualität der Andenbewohner*innen auf das Umweltbewusstsein aus? Dieser spannenden Frage ging ich auf mehreren Reisen durch Südamerika nach und stellte fest: Naturverbundenheit ist auf vielfältige Weise in den Hochlandkulturen verankert.

Melanie Alessandra Moog

Naturraum aus Sicht der Andenbewohner

Die beeindruckende Andenkordillere, die sich durch Südamerika zieht, ist ein einzigartiger Naturraum, der noch immer von pantheistischen Weltbildern geprägt wird, besonders vom Konzept der Pachamama. Pacha bedeutet sowohl „Zeit“ als auch „Raum“ in der Andensprache Quechua, was uns per definitionem ein wenig an den Einsteinschen Raumzeit-Begriff erinnert. Aus physikalischer Perspektive sind Masse und Ausdehnung demnach mit Temporalität im Zusammenspiel zu denken. Nun spricht man in den Anden, wie oben erwähnt, von einer Pacha-Mama (Pacha-„Mutter“). Sie erinnert ein wenig an die griechische Göttin Demeter (röm. Gaia) oder an die indische Prithivi. Die Pachamama wird in den Anden als mütterliche Personifikation des Irdischen verehrt. Man könnte Pachamama also mit „Mutter Erde“ übersetzen. Sie hat auch ein „männliches“ Gegenüber, den Pachaqamaq. Diese Gottheit ließe sich als Verwalter (Quechua: qapaq) verstehen, einen Verwalter der Zeit und Zyklen. Die Idee von einem Zeitenlenker – beziehungsweise von der Zeit selbst – wird in den alten Kulturen Meso- und Südamerikas häufig als Spirale symbolisiert, während der Raum, Pachamama, durch treppenartige Stufenformen repräsentiert wird. Häufig sind diese Stufen und Spiralen gemeinsam dargestellt und bilden in Textilien, Plastiken oder Reliefen gemeinsam Muster. Man könnte auch sagen, Pachamama ist die Materie und Pachaqamaq bringt sie mithilfe der zeitlichen Evolution in sich wandelnde Formen.

Die vier Welten

Räume werden ausgehend vom Pachamama-Konzept einem der vier Bestandteile andiner Lebensrealität zugeteilt. Es gibt also im Grunde vier verschiedene Pachas: Ukupacha (Erdreich; auch: Totenreich/ Unterwelt), Kaypacha (Umwelt: Menschen, Tiere, Pflanzen), Hananpacha (Himmel; auch: Götterwelt) und zuletzt Jawanpacha (Kosmos). Alle diese Räume sind energetisch miteinander verbunden, sodass eine Handlung in der Menschenwelt auch einen Effekt in den anderen Sphären hat und vice versa. Ein Beispiel: Verunreinige ich den Erdboden mit Giften (Kaypacha), so kann davon auch etwas im Grundwasser landen (Ukupacha). Wetterbedingungen (Hananpacha) wirken sich auf die Ernte aus (Kaypacha). Zudem sind Uku-, Kay– und Hananpacha nicht losgelöst zu sehen, sondern sie sind Teil eines viel größeren, kosmischen Zusammenhangs (Jawanpacha).

Kulturell veranktertes Umweltbewusstsein

Die Pachamama ist vor allem in ihrer Funktion als Fruchtbarkeits- und Lebensbringerin bekannt. Ihre Würdigung ist einer der Hauptaspekte der noch immer stark landwirtschaftlich geprägten Andenkulturen. Dies geschieht täglich und schon auf ganz praktischer Ebene: Wird beispielsweise ein Becher des vergorenen Maisgetränks chicha getrunken, so wird zuerst ein Schluck auf den Erdboden geträufelt und der Pachamama gedankt. Erst dann trinkt man selbst. Auch zu besonderen Anlässen im Jahreszyklus, besonders zur Pflanz- und Erntezeit, wird der „Mutter Erde“ in Form von Opfergaben gedacht, und dies oft sehr farbenfroh: Auf einer handgewebten Decke werden symmetrisch und in bestimmter Reihenfolge Blumen, Lebensmittel und symbolische Gegenstände nach und nach angeordnet, dazu wird gemeinsam gebetet, was eher einer Meditation gleicht. Dann wird dieses Opfer entweder begraben oder in einem Feuer vollständig verbrannt, sodass es dem Erdboden „zurückgegeben“ werden kann. Auf diese Weise würdigen die Andenbewohner die Um-Welt, alles uns Umgebende – unsere direkte Lebensgrundlage. Die rituellen Handlungen zu Ehren der Natur oder Pachamama gehen auf das ethische Prinzip des ayni zurück, was auf Quechua etwa „energetisches Gleichgewicht“, „Balance“ oder „Geben und Nehmen“ bedeutet. Demnach soll laut der Kosmovision der Anden in allen Lebenssituationen darauf geachtet werden – im sozialen Rahmen (Kultur) genauso wie im Umgang mit der Natur – nicht mehr zu nehmen als das, was man selbst tatsächlich gibt – in Form von Dankbarkeit, materiellen Gaben und würdigenden Worten. Dies ist eine Frage des Respekts, einer der wichtigsten kulturellen Werte dieser Hochlandkulturen, der sich auch in einem Respekt vor der Umwelt ausdrückt.

Heilige Stätten inmitten der Natur

Zeremonielle Handlungen der Andenspiritualität wurden und werden gern an heiligen Stätten (Quechua: huaca) abgehalten. Dies sind in den Zentralanden insbesondere Reste der Inka-Kultur. Der wohl prominenteste Vertreter dieser Stätten ist das Weltkulturerbe Machu Picchu in Peru. Allerdings fällt auf, dass in diesem tempelähnlichen Konstrukt aus rechtlichen Gründen keine Opferungen für Pachamama oder Ähnliches von den Vertretern der Andenreligionen mehr abgehalten werden dürfen. Sie sind als archäologische Parks heute vor allem auf den Tourismus ausgerichtet. Viele heilige Plätze, auch dies fällt auf, sind inmitten spektakulärer und schwer zugänglicher Natur erbaut. Grund hierfür ist die Symbolbedeutung sakraler Andenarchitektur: Das durch den Menschen Errichtete (Kultur) soll ewige Prinzipien widerspiegeln (pantheistische Natur), und dies in Form von Harmonie in der Baukunst. Symmetrien, Nummerologie, heilige Geometrie, Ausrichtung nach Himmelskörpern und vieles mehr zeugen von der scharfen Beobachtungsgabe der präkolumbinischen Kulturen. Natürliche Vorgänge, die zur Erhaltung des Gleichgewichts in der Natur dienen, wurden beobachtet und in den Traditionen, zum Beispiel in der Bauweise und dem Dekor, auf vielfältige Weise wiedergegeben. Umwelt und Kultur werden daher in den landwirtschaftlich geprägten Anden, wo Traditionen rund um die „Mutter Erde“ so wichtig sind, Hand in Hand betrachtet.

Erinnerungsbedarf: vom Kopf bis zu den Wurzeln

Dennoch gibt es in der gegenwärtigen Andenzivilisation, besonders an Stadträndern und unter Landwirten, großen Erinnerungsbedarf dahingehend, dass die Natur, wenn vielleicht nicht jedem mehr heilig, so doch schützenswert ist. Pestizide, die hierzulande wegen strengerer Richtlinien nicht mehr vertrieben werden dürfen, kommen dort teils zum Einsatz. Manche waschen ihre Wäsche aus Kostengründen im Fluss, mit umweltschädlichen Seifenprodukten. Die Liste geht weiter. Es ist wünschenswert, dass das Herzstück der Pachamama-Kultur wieder neu auflebt: Die Liebe zur Natur.

Erschienen in BUZ 4_21

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