Der Rückspiegel am Auto ist nützlich. Er dient aber nicht dazu, sich zu erinnern, wo man gerade war. Der Blick zurück dient dem Zweck, gesichert nach vorne zu lenken. Grund für den „Blick zurück“ ist eigentlich die „vorausschauende Sicht“ nach vorne, um Unheil zu vermeiden, um sicher am Ziel anzukommen. Es klingt paradox, aber der Blick zurück ist zukunftsgewandt.
Kritischer Blick zurück
Es ist unverzichtbar, die Vergangenheit, also unsere Erfahrungen, als Wissensschatz für die Zukunft zu nutzen. Das ist nicht immer leicht, denn mitunter trügt der Schein. Die inflationäre Aufbereitung in unseren Medien – gerade zum Jahresende – ist eine von Interessen geleitete Auswahl. Das muss uns bewusst sein.
Dabei kommt es in unserer medienschwangeren Zeit darauf an, kritisch zu sortieren und zu bewerten. Erfolge und sogar erkannte
Falschentscheidungen sind hilfreich für weiteres Handeln. „Fehler, aus denen man lernen kann, sollte man möglichst früh machen“, sagte Winston Churchill. Dies ist ratsam, sofern man erkennt, was richtig und was falsch war.
Nun ist es abseits von allen Verschwörungstheorien und der Flut von „Fake-News“ naheliegend, nur das zu glauben, was man mit eigenen Augen sieht, doch auch das ist nicht immer richtig. So wird in unserer aufgeklärten Welt davon ausgegangen, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Tatsächlich erleben wir alle alltäglich das Gegenteil; die Sonne geht im Osten auf, macht einen großen Bogen und geht im Westen unter. Das ist Fakt, der Beweis wird jeden Tag erbracht. Also – was sehen wir, was glauben wir, was wissen wir?
Rückblicke sind unangenehm
Es scheint unter dem politischen Führungspersonal eine grassierende Krankheit zu geben; man nennt dies Amnesie oder einfach Gedächtnislücken. Ob Minister Scholz bei der Warburg-Bank, ob Scheuer bezüglich der Mautverhandlungen oder Frau von der Leyen bei der Beschaffung von militärischem Gerät – immer setzen die Krankheitssymptome rechtzeitig und punktgenau ein. Die Erinnerungslücken im politischen Raum sind skandalös und inakzeptabel.
Dabei ist nicht auszuschließen, dass es sich in Einzelfällen nicht um Vergessen handelt, sondern um Verdrängen. Eine Hilfskonstruktion des menschlichen Körpers. Wie sang Stephan Sulke so schön; „Wenn über eine olle Sache mal endlich Gras gewachsen ist, kommt irgend so ein Kamel gelofen, das alles wieder runter frisst“.
Der folgenschwerste Fall eines Rückblicks ereignete sich in der Bibel. Gott strafte die Frau von Lot, weil sie auf der Flucht aus Sodom und Gomorrha gegen den Befehl verstieß, nicht zurück zu blicken. Sie erstarrte zur Salzsäule. In dieser Geschichte ist eine klare Botschaft zu erkennen: Blicke nicht zurück, hänge nicht der Vergangenheit nach.
Rückblicke sind schön
Erinnerungen können auch sehr schön sein. Einige werden im Rückblick noch schöner. Der erste Kuss, der Einzug in die erste eigene Wohnung, die erste Arbeitsstelle, erstes eigenes Geld; Stolz auf das Erreichte, das Überstandene. Problematisch wird es, wenn die Erinnerungen nachlassen und alles so durch eine rosa Brille erscheint, dass die Gegenwart nur noch trist oder gar grausam wirkt. Für Griesgrämige ist selbst die Zukunft früher besser gewesen. Für die einen ist das Kriegsende Kapitulation, für andere Befreiung. Den Mauerfall erlebten manche als Ende, viele als Neuanfang. Auch gesellschaftliche Ereignisse werden sehr subjektiv empfunden und erinnert.
Rückblicke sind selektiv
Wir erleben täglich Momente für die Sammlung von Erinnerungsstücken. Das sind unsere Erfahrungen und Rückblicke, sind Informationen, unser Schatz. Sie helfen, Erfahrung zu bewahren, schützen vor Fehlern, geben Zuversicht. Sie offenbaren aber auch die Lücken. Irgendwo im Kopf sind die Informationen abgespeichert, nur der Zugriff scheint verloren gegangen.
Die allgegenwärtige Dominanz des Themas „Corona“ lässt das Thema „Klimawandel“ in den Hintergrund rücken. Geht da auch was an Problemwahrnehmung verloren? Virologen sind in den Medien präsenter als Umweltexperten. Covid-19 ist aktuell die gesellschaftliche Herausforderung, hier bei uns und in der ganzen Welt. Doch auch die Umweltprobleme sind hier und in der ganzen Welt akut. Die Aufmerksamkeit hat nach einem medialen Hype durch Fridays-for-Future nachgelassen, nicht der Problemdruck. Covid-19 betrifft die Gesundheit der Menschen direkt und aktuell. Aber auch die Folgen des Klimawandels werden immer dramatischer.
Unser Hirn – ein wunderbares Archiv
Unser Gehirn ist ein Archiv, viel wertvoller als eine PC-Festplatte. Unser Gedächtnis ist ein einzigartiger Computer. Nur ein kleiner Unterschied ist entscheidend. Wie singt Grönemeyer: „der Mensch ist ein Mensch, … weil er vergisst. …“. Das gehört auch zur Wahrheit. Vergessen ist menschlich. Aber: Die gravierenden Folgen des Klimawandels lassen kein Vergessen zu. Sie sind allgegenwärtig. Der Blick zurück wirkt schon deprimierend, der Blick in die Zukunft ist alarmierend.
Wenn wir unser Gedächtnis mit schönen Momenten füttern, dann fällt der Rückblick leicht. Sorgen wir dafür, dass aus Erlebnissen gute Erinnerungen werden, aber auch aus Erfahrungen wichtige Lehren gezogen werden, aus erkannten Problemlagen kluge Handlungen folgen – für uns Menschen und für unsere Umwelt. Nur dann werden aus diesen Jahren schöne Rückblicke für spätere Generationen.
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