Der lange Weg der Wirkstoffe
Susanna Allmis-Hiergeist
Wie stark die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas in die Wirtschaft und den Alltag eingreifen kann, hat der Ukraine-Krieg gezeigt. Mit Blick auf China lässt sich eine weitere Abhängigkeit, nämlich die von Arzneimittelwirkstoffen, erkennen. Mit anderen schwerwiegenden Risiken.
Das Thema Medikamentenmangel war in den letzten Wochen stark in der Presse vertreten. Gerade die in der kalten Jahreszeit verstärkt benötigten fiebersenkenden Schmerzmittel und Antibiotika waren regional oder bundesweit vergriffen. Eine wichtige Rolle dabei spielt die Konzentration der Herstellung wichtiger Arzneistoffe auf Produktionsstätten in China und Indien.
Asiatische Dominanz im Wirkstoffmarkt
70 Prozent unserer Medikamente enthalten Wirkstoffe, die in China produziert werden. Nach Ablauf des Patentschutzes können die Wirkstoffe oder das fertige Medikament als sogenannte Generika weltweit „nachgebaut“ werden. Gemäß einer Studie der Unternehmensberatung Mundicare wurden im Jahr 2000 noch Zweidrittel der generischen Wirkstoffe in Europa produziert und ein Drittel in Asien. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt. Helmut Laschet von der Nature Health Emergency Collection gibt an, dass Zweidrittel der 3788 auf dem Weltmarkt angebotenen Arzneimittelwirkstoffe überwiegend in China und Indien produziert werden. Beim fiebersenkenden Schmerzmittel Ibuprofen lief das Patent 1986 aus. Heute produzieren weltweit noch sechs Hersteller Generika von Ibuprofen, davon vier mit Sitz in Asien. Kein einziges Antibiotikum wird mehr in Deutschland hergestellt.
Die globalisierte Medikamentenindustrie, insbesondere in China, arbeitet konkurrenzlos billig. Das Quasi-Herstellungsmonopol führt zu großen Fabrikationsstätten und damit niedrigen Kosten pro Wirkstoffeinheit (Economies of Scale). Das asiatische Lohnniveau begünstigt zusätzlich den Unterbietungswettbewerb beim weltweiten Preiskampf. Ein weiterer Faktor im Standortwettbewerb für Arzneimittelfabriken sind die niedrigeren Umweltauflagen in China. Fast jeder Produktionsschritt beinhaltet potentiell umweltschädliche chemische Prozesse und Technologien. Die dabei entstehenden Abfälle können in China wegen mangelnder Auflagen leichter entsorgt werden.
Das offensichtliche Monopol wird noch durch ein verdecktes verstärkt: Denn China produziert nicht nur wie bei Ibuprofen die fertigen Generika, sondern auch den originären Wirkstoff, der in Indien oder den USA zu Pillen oder Saft verarbeitet wird. Selbst wenn auf dem Beipackzettel Deutschland als Herstellungsland angegeben ist, betrifft dies häufig nur die letzten Produktionsschritte wie Qualitätskontrolle und Verpackung.
Risiko Lieferengpässe
Das chinesische Zentrum der Pharmaindustrie liegt am Jangtse-Delta südlich von Shanghai. Diese Region ist generell von Tsunamis bedroht. Während des harten Lockdowns 2022 war sie stark von Transportbeschränkungen betroffen. Von dort konnten daher pharmazeutische Produkte nur mit großen Verzögerungen auf den Weltmarkt gebracht werden.
Die Konzentration auf wenige Produktionsstandorte birgt hohe Versorgungsrisiken. Kommt es bei Störungen wie einem Brand in Indien oder einer Corona-bedingten Störung der Lieferketten in China zu betrieblichen Problemen, kann ein Medikament vorübergehend nicht ausgeliefert werden und die weltweiten Vorräte gehen rasch zur Neige.
Für Helmut Laschet ist daher klar: Je mehr Zulassungen pro Wirkstoff es gibt und je gleichmäßiger diese nach Weltregionen verteilt sind, umso stabiler ist die Versorgung.
Standort Europa stärken
Das Gegenteil von Diversität befördert das deutsche Rabattsystem. Dabei wird über Ausschreibungen ein Vertrag mit einem oder mehreren Herstellern geschlossen, die den niedrigsten Preis, also höchsten Rabatt bei Generika bieten. Das System der Rabattverträge ist 2003 zur Kostensenkung im Gesundheitswesen eingeführt worden. Seit 2007 müssen die Apotheken bei Kassenrezepten das rabattierte wirkstoffgleiche Präparat aushändigen, unabhängig davon, was der Arzt verschrieben hat.
Alarmiert durch die mangelhafte Arzneimittelversorgung insbesondere bei Kindern hat das Gesundheitsministerium ein Eckpunktepapier vorgelegt. Danach soll bei aktuell gültigen Festpreisen der Erstattungssatz bei Kindermedikamenten bis zum 1.5-fachen überschritten werden können, der Anteil der Wirkstoffproduktion in der EU soll künftig im Ausschreibungsverfahren berücksichtigt werden. Auch eine vorsorgliche Lagerhaltung ist vorgesehen. Bis dies in Gesetze gefasst sein wird und ein Produktionstransfer tatsächlich stattfindet, wird es eher Jahre als Monate dauern. Solange werden die knappen Ressourcen dorthin fließen, wo am meisten gezahlt wird. Deshalb hat das Gesundheitsministerium die Festpreise von Februar bis April für Kindermedikamente ganz ausgesetzt. Der Mangel entsteht dann eben woanders in der Welt.
TRADITIONELLE CHINESISCHE MEDIZIN
In den letzten Jahren hat die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) auch in Deutschland einen höheren Stellenwert im Behandlungsspektrum erlangt. Die Therapien greifen auf über 3000 Jahre alte Heilpraktiken zurück. Sie setzen sich meist aus verschiedenen Komponenten wie Akupunktur, heilenden Substanzen, Massagen, Ernährungsumstellung und Körpertraining zusammen. Während sich viele Verbesserungen im Wohlbefinden nicht eindeutig einzelnen TCM-Anwendungen zuordnen lassen, haben einige der zumeist pflanzlichen Wirkstoffe anerkannte, pharmazeutisch getestete Wirkungen.
Extrakte der Gingko-Pflanze beispielsweise wirken lindernd bei Muskelschmerzen. Die Kurkuma-Wurzel enthält den anti-infektiösen Wirkstoff Curcumin, das Artemisia-Kraut hemmt die Entwicklung von Malaria-Parasiten und das Kraut der Huperzia kann mental unterstützend bei einer Alzheimer-Erkrankung eingesetzt werden. Selbst Arsen wird in niedriger Dosierung bei der Bekämpfung bestimmter Arten von Leukämie verordnet. Das anerkannte Potential dieser Substanzen führte jedoch auch zu einer unübersichtlichen Vielfalt an Angeboten auf dem Markt. Nicht immer ist dabei eine sachgerechte Qualitätskontrolle gewährleistet. Der Bezug über seriöse Quellen wie Apotheken oder Therapeuten ist daher ratsam.
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