Eine Geist-reiche Kolumne

10. Juni 2020 | Gesellschaft | 0 Kommentare

Spiritualität und Wissenschaft

Ewige Kontrahentinnen? Oder brauchen sie einander gar? Mythische unerklärliche Phänomene spornen Wissenschaftler*innen seit jeher zur Weiterentwicklung ihrer Disziplinen an. Nicht selten werden dabei vermeintliche Wunder entzaubert. Im Gegenzug schafft eine Offenheit für Spiritualität neue Blickwinkel und Denkweisen. Ist Thinking outside the box der gemeinsame Nenner von Spiritualität und Wissenschaft?

Kathrin Schlüßler

Als Naturwissenschaftlerin ist das Thema Spiritualität eine Herausforderung – wenn auch eine spannende. Ich habe schon immer der rationalen Kühle einer wissenschaftlichen Erklärung eines Phänomens einiges mehr abgewinnen können als mich dem Gefühl hinzugeben, dass nicht alles erklärbar ist, dass da irgendwie höhere Kräfte, Mächte, Energien wirken.

Noch immer bin ich überzeugt, dass die Wissenschaft für alles eine Erklärung liefern kann – wenn es soweit ist, wenn unsere Maschinen, Detektoren, Messaufbauten und unser Wissen sich weit genug entwickelt haben. Peter Higgs beispielsweise beschrieb in den 1960er Jahren theoretisch das nach ihm benannte Higgs-Boson – ein extrem kurzlebiges elektrisch neutrales Elementarteilchen. Erst Jahrzehnte später konnte es im Large Hadron Collider am CERN nachgewiesen werden und Higgs‘ Theorie wurde 2013 – 50 Jahre nach ihrer Postulierung – mit dem Nobelpreis für Physik geehrt.

Anders als Higgs hat Albert Einstein den Beweis seiner Allgemeinen Relativitätstheorie nicht mehr erlebt Es brauchte hundert Jahre und ein Weltraumteleskop im Orbit der Erde, um zu zeigen, dass schwere Objekte im All – wie Sonnen, Weiße Zwerge oder Schwarze Löcher –  die Raumzeit krümmen und dadurch das Licht ablenken wie eine Linse. Je stärker die Ablenkung, desto massereicher das Objekt – in diesem Fall der Weiße Zwerg mit der Katalognummer Stein 2051, der das Licht eines genau in einer Linie hinter ihm liegenden Bezugssterns so ablenkte, dass der hintere Stern neben (!) Stein 2051 erschien. Quod erat demonstrandum, Herr Einstein, der selbst nicht daran glaubte, dass der experimentelle Beleg möglich ist.

Bis zu ihrem Beweis erscheinen wissenschaftliche Theorien oftmals fantastisch – ihre Urheber*innen wurden und werden nicht selten verlacht, mitunter sogar diffamiert und verfolgt. Die größten Widersacher der Wissenschaft fanden und finden sich bis heute in den Reihen der Geistlichkeit irgendwelcher Religionen. Nun weiß ich selbst, dass Spiritualität nicht gleich Religion ist. Kann aber sein. Eine allgemein anerkannte – also wissenschaftliche – Definition existiert (leider) nicht. Spiritualität ist eine höchstpersönliche Sache, die für jede*n anders funktioniert. Etymologisch ist sie dem lateinischen spiritus für Geist, Psyche, Seele – entlehnt und beschreibt eine Suche, eine Weltanschauung oder die Erfahrung einer höheren Bedeutung. Die einen nennen es Seele, die anderen Feinstofflichkeit – also irgendwas zwischen Materie und dem Immateriellen.

Puh, für meinen Geschmack ziemlich vage. Leider sahen das die Wissenschaftler*innen der letzten hundert Jahre ähnlich und verbannten die „Seelenkunde“ aus den Kreisen der Forschung. So weit wäre ich ja trotz aller Zweifelei nun nicht gegangen. Denn wenn sich die Wissenschaft zurückzieht, überlässt sie Esoteriker*innen, selbsternannten Gurus und den zunehmend beliebten Lebenscoaches das Feld, die mit der Sinnsuche der Menschen eine perfekte Marketingmaschinerie betreiben und sich eine goldene Nase verdienen.

So viel zu meiner (!) Sicht auf das große Ganze. Fehlt noch der angekündigte Blick nach innen. Bin ich spirituell? Puh, schwer. Da es an der allgemeingültigen Definition mangelt, kann meine Antwort darauf ja keine einfache sein. Ich sag mal so: Bei aller wissenschaftlicher Distanz zu nebligen Phänomenen werfe ich mir verschüttetes Salz über die rechte Schulter, hänge zwischen Weihnachten und Silvester keine Wäsche raus (Wilde Jagd und ein Jahr Unglück – you know?!) und zahle bewusst meine Kirchensteuer. Ach ja, nach Betrachtung meiner Fingernägel (was arrogant ist und – Raten Sie mal?! Genau! – Unglück bringt) schau ich mir auf die Ferse, was den „Fluch“ wieder auflöst. Widersprüchlich?! ABSOLUT! Übrigens sind sich in meinem Umfeld alle der Tatsache bewusst, dass die kleinen Rituale vermutlich nicht gegen die Unbilden des Lebens helfen – sie schaden aber auch nicht. Somit sind wir überzeugte Anhänger*innen der Hinischani (Hilft nicht, schadet nicht)-Kultur.

Ich weiß auch, dass einige den Aberglauben meiner Vorfahrinnen (Danke, Mama und Oma!) nicht unbedingt als spirituell bezeichnen würden. Aber die Bereitschaft an die Möglichkeit größerer Zusammenhänge zu glauben, ist beiden gemein. Das ist ja das Tolle am menschlichen Verstand: Er kann mehrere „Wahrheiten“ nebeneinanderstellen. Ich kann also kühl und wissenschaftlich verstehen, wie ein Virus wie SARS-CoV-2 mutiert und auf den Menschen übergeht und gleichzeitig den Deppen verfluchen, der zwischen den Jahren unbedingt Wäsche waschen musste und uns den ganzen Schlamassel erst eingebrockt hat.

Natürlich muss ich meinen Geist-reichen Kommentar mit einem naturwissenschaftlichen Phänomen abschließen. ABER: Keines ist besser geeignet, die Grenzen zwischen Wissenschaft und Spiritualität so nachhaltig zu verwischen als das quantenphysikalische Kuriosum der Verschränkung. Dieses besagt, dass zwei Quantenteilchen aus einer gemeinsamen Quelle miteinander verbunden bleiben – auch über große Distanzen hinweg. Misst man den Zustand des einen, ändert sich der Zustand des anderen – ohne dass Informationen ausgetauscht wurden. Einstein nannte es eine spukhafte Fernwirkung und legte die Theorie ad acta. Inzwischen wurde sie in sogenannten Bell-Tests vielfach nachgewiesen. Theoretisch ist es also möglich, dass Quantenteilchen, die dem gemeinsamen Startpunkt des Universums, dem Urknall entstammen, auf bislang unerklärliche Weise miteinander wechselwirken. Mind blowing, nicht wahr?!

Dieser Artikel erschien in der BUZ-Ausgabe Mai/Juni 2020.

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