Ein Projekt der Bertolt-Brecht-Gesamtschule
Zeitenwende – jetzt!
Autor*innen des Projektteams
Kottenforst, Pfingstdienstag, Zwanzig Uhr. Ein kleiner dunkelblauer Punkt nähert sich der „Zeitenwende“. Ein irritierender Ort: Die Lichtung, das Werk von Borkenkäfern und der Dürre der letzten Jahre, wirkt auf den ersten Blick wie ein Schlachtfeld. Doch Insekten summen, und trotz der Uhrzeit ist es immer noch schwülwarm. Hier treffen wir Professor Markus Gabriel zum Gespräch.
Markus Gabriel, Philosophieprofessor an der Universität Bonn, heute im dunkelblauen Poloshirt, schwingt sich vom Fahrrad und es wird gleich politisch. Die Proteste gegen Rassismus in Amerika bewegen Gabriel auch persönlich. Das Weltgeschehen scheint aus den Fugen geraten zu sein, die Zeitenwende ist allerorts spürbar, und wir sind mitten im Thema angelangt. Und so nimmt die erste Frage von Emelie Groenhoff nicht nur Bezug auf die Umgebung, sondern auch auf die derzeitige Situation.
Welche Assoziationen er mit dem Begriff Zeitenwende verbinde, möchte sie wissen. „Zeitenwende ist eigentlich ein ganz besonderer philosophischer Begriff“, nimmt Gabriel den Faden auf. „Im Moment spüren wir auf ganz vielfältigen Kanälen, dass sich das kollektive Bewusstsein verändert, dass es sich verschiebt. Wenn ganz alltägliche Dinge wie das Händeschütteln nicht mehr funktionieren, als wäre überall Sand im Getriebe, wenn auf einmal die Systemschwächen unserer eigenen Zeit sichtbar werden, das ist eine Zeitenwende. Es wird eine völlig neue Weltordnung geboren und wir wissen nicht, wie sie aussehen wird, niemand weiß das, weil es davon abhängt, was jeder von uns tut, wie daraus koordiniertes Handeln und ein neues Bewusstsein entsteht.“
Inwiefern er momentan eine Zeitenwende, besonders bezogen auf die Umwelt sehe, beantwortet er folgendermaßen: „Was wir gerade sehen ist die Selbstausrottung der Menschheit in kleinen Schritten.“ Jetzt merkten wir auf einmal, dass man nicht mehr wegschauen könne. Der Ort des Interviews zeigt dies auf drastische Weise. Tote Bäume reihen sich hinter riesigen weißen Buchstaben aneinander wie Zinnsoldaten und der Klimawandel scheint plötzlich sehr nah. „Seit dem neunzehnten Jahrhundert haben wir diese Situation durch fossile Brennstoffe erzeugt.“ Gabriel zweifelt nicht daran, dass die Menschheit auf diese Weise ihrem eigenen Ende entgegen steuert. „Wie lange geht das noch? Es wäre eine interessante philosophisch-ethische Frage: welche Zahl akzeptieren wir für den Weltuntergang? Wenn wir über 20.000 Jahre redeten, würde ich mir überlegen, ah, das ist aber sehr nahe. Aber wir reden nicht über 20.000 Jahre, wir reden über wenige hundert Jahre im jetzigen Modus, wenn überhaupt.“
Es klingt unausweichlich. Doch der Philosophieprofessor ist sich sicher, dass wir dieses Schicksal als Kollektiv vermeiden können. Was sich dazu im Bewusstsein der Menschen verändern müsse, vertieft Emelie das Thema. „Grundsätzlich muss jedes Individuum und dann die Menschheit als Ganzes lernen, das moralisch Richtige zu tun und einzusehen, dass das moralisch Richtige auch das objektiv Vorzügliche ist, also das, was klug ist zu tun“, stellt Markus Gabriel fest. „Viele glauben, dass es naiv ist, das moralisch Richtige zu tun. Der sogenannte Gutmensch ist mittlerweile fast ein Schimpfwort geworden, denn, so der Gedanke, man muss in einer Welt wie dieser hart sein und seinen Willen zur Macht beweisen. Was ich damit anstoßen möchte: jeder muss sich im Alltagshandeln und im Denken am moralisch Richtigen orientieren. Und wenn wir dann die Teilsysteme der Gesellschaft, also Wirtschaft, Zivilgesellschaft, verschiedene Generationen, Leute mit verschiedenen Einkommen und Besitzständen, Kunst, Philosophie, Religionen, wenn die an den Scharnieren so verzahnt werden, dass sie gemeinsam das moralisch Richtige tun, dann, und übrigens nur dann, werden wir diese Stapelkrise, also die Anhäufung verschiedener Krisen, bewältigen können.“ Es gehe um eine Radikalität im Denken. Ein Konjunkturpaket der Regierung allein, der Wunsch, die Wirtschaft auf das Tempo vor der Coronakrise hochzudrehen, ändere nichts. Wenn wir die Krise nicht als Chance zur Veränderung verstünden und weiter der Meinung seien, der Sinn des Lebens bestehe im Geld anhäufen und Konsumieren, so Gabriel entschieden, „gibt es bald kein Leben mehr.“
Und was kann das philosophische Denken beitragen, um eine solche Veränderung in unserem alltäglichen Handeln herbeizuführen, hakt Emelie nach. „Die Philosophie geht mit Taubenfüßen, wie Nietzsche sagt, und ist trotzdem so stark wie ein Löwe“, erinnert der Professor. Philosophen und Religionsstifter hätten stets voran gedacht und das Bewusstsein der Menschen gesteuert. Durch das kapitalistische Denken werde immer weiter ökonomisch hochgerüstet und auf Wachstum gesetzt. Damit zerstörten wir den Planeten und das menschliche Glück. So sei es „Aufgabe der Philosophie, den Weg zu beschreiben, wie wir aus der Mehrwertproduktion des Kapitalismus heraus kommen. Die Ordnung, aus der wir kommen, muss ganz zerbrechen und wenn wir Glück haben, geht das ohne Gewalt.“ Gabriel meint, dass wir mindestens einmal im Leben systematisch über unser moralisch richtiges Handeln nachdenken müssten und bezeichnet die Einführung von Ethik als Pflichtfach, nicht alternativ zum Fach Religion, sondern additiv als zwingend notwendig. Das rationale systematische Nachdenken, wer wir sind und wer wir sein wollen, solle spätestens ab der Grundschule eingeübt werden.
„Jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir den Bewusstseinswandel als Individuum und gemeinsam voranbringen können“, resümiert Markus Gabriel. „Wir müssen digital, aber auch analog ausstrahlen, so wie wir es jetzt hier tun. Und das muss an verschiedenen Stellen geschehen, so wie das Virus. Wir brauchen eine Moralwelle, eine metaphysische Pandemie, die alle Menschen zusammen schmiedet. Wir empfinden alle nicht nur Lähmung, sondern auch Zeitenwende durch das Virus.“
Weitere Informationen finden Sie unter: https://m.youtube.com/watch?v=aHAq4_TP2Is
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